Zwölfte Erzählung.
([236] Cap. LXXIX. bei Û p. 407. sq.)

Der Kaiser Miremius hatte nur einen einzigen Sohn, bei dessen Geburt weise Männer, über sein künftiges Geschick befragt, erklärt hatten, er werde nicht am Leben bleiben, so er nicht sieben Jahre lang in einem unterirdischen Gemache verwahrt werde, wohin weder Licht noch Sonne dringen könne. Das geschah aber also, und als nach Verlauf dieser Zeit der junge Prinz aus seinem unterirdischen Gefängnisse befreit worden war, da zog er durch seine ausgezeichneten Tugenden und Anlagen die Aufmerksamkeit und Bewunderung aller Leute auf sich. Zur gehörigen Zeit vermählte man ihn darnach mit der Tochter des Königs von Ungerland. In jeder Ecke des Brautbettes ward aber ein kleines Hündlein zur Bewachung desselben postirt und neben demselben eine[236] brennende Lampe hingestellt, welche auf des Kaisers ausdrücklichen Befehl nur von der Hand einer reinen Jungfrau angezündet werden durfte. Wie aber der Prinz eines Nachts in dieses Gemach kam, fand er die Lampe erloschen und that ein feierliches Gelübde, er wolle nie wieder sein Ehebett besteigen, es sey denn, daß die Lampe wieder angezündet wäre: allein trotz vielem Suchen konnte doch keine Jungfrau für diesen Zweck gefunden werden. Da beschloß der Prinz sich selbst aufzumachen um eine solche zu suchen, und nachdem er von seiner Gattin zärtlichen Abschied genommen hatte, begab er sich auf seine Entdeckungsreise. Er traf aber alsbald auf einen Löwen, dessen Fuß durch einen Dornen verwundet worden war, den zog er heraus, und das Thier folgte ihm nunmehro. Wie er aber an das Schloß eines Königs kam, der eine jungfräuliche Tochter hatte, da verliebte sich der Prinz in dieselbe und begehrte sie zur Ehe. Der König gab ihm auch seine Einwilligung, jedoch unter der Bedingung, daß er einen schrecklichen Drachen vertilge, welcher erst neuerdings alle Schaafe und Ochsen dieser Gegend gefressen hatte, und für dessen künftige Befriedigung es bald nöthig zu seyn schien, unter den Gliedern der königlichen Familie selbst zu loosen. Der Prinz nahm den Vorschlag an und kam gerade zu der Zeit an, wo das Loos die Tochter des Königs getroffen hatte. Er erschrack freilich gar sehr darüber, machte sich aber doch auf, den Drachen anzugreifen, allein der war schon im Begriff ihn umzubringen, als der Löwe ihm zu Hilfe kam und geschwind seinen Feind tödtete. Hierauf ward die Jungfrau dem Prinzen ausgeliefert, der sie mit heim zu seinem Weibe führte: darnach ward die Lampe wieder zu großer Freude beider Theile angezündet und die Jungfrau von ihnen mit aller[237] nur möglichen Freundlichkeit und Zuvorkommenheit behandelt.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 236-238.
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