[20] Der Kerninhalt der bulgarischen und altaischen Schöpfungssage ist der, daß nicht Gott selbst, sondern der Teufel die Erde aus dem Meere holt, daß er also sich eines Wesens bedient, das ihm nicht gleichsteht, wohl aber gleich sein möchte. Dieser Gedanke gemahnt an die Hauptfrage der gnostischen Dogmatik: »Wie der Geist, der Himmelsfunke, hineingeraten sei in diese plumpe Welt der Materie und wie er aus ihr wieder befreit werden könne.« Der Antwort auf diese Frage liegen meist folgende Gedanken zugrunde. Der schlechthin vollkommene, immateriell gedachte Gott, von dem etwas Positives auszusagen menschlicher Rede fast unmöglich ist, steht im Gegensatz zur unvollkommenen Materie, dem Stoff der Weltbildung. Die Welt, d.h. die gestaltete und belebte Materie, der Kosmos,[20] ist nicht das Werk dieses höchsten Gottes, sondern untergeordneter Mächte, die mit dem göttlichen Urwesen entweder nichts zu tun haben oder ihm gar feindlich gegenüberstehen, meist einer unter ihnen, die in den entwickelteren Systemen als Weltbaumeister (Demiurg) bezeichnet wird. Die Kluft zwischen Gott und Welt wird durch höhere und niedere Äonen ausgefüllt usw. (Herzogs Real-Enc. VI, 735.)
Ich begnüge mich mit der Darlegung von zwei Systemen, die eine gewisse Beziehung zu den Schöpfungssagen der Volkstradition erkennen lassen.
1. Die Lehre der jüdischen Ophiten (vgl. Honig, Die Ophiten) lautet in den Grundzügen, wie folgt:
Der Demiurg Jaldabaoth (aus der chaotischen Masse gezeugt »mit einem Hauch der Unvergänglichkeit« als Erbteil seiner Mutter Sophia, dem aus der Fülle der Göttlichkeit entfallenen Lichttau) bringt die sichtbare Welt hervor. Er ist nicht stark und rein genug, um eine von den Unvollkommenheiten der Materie freie Schöpfung zu erzielen. Das Göttliche an ihm ist der Anfang dieser Welt, das Materielle an ihm die Quelle ihrer Unvollkommenheiten (Honig, S. 36); aus der unnatürlichen Vermischung des Lichtreiches mit der Materie entstanden, verrät er in seinem Schaffen überall den Zwiespalt seiner Abstammung (S. 37).
2. Die Lehre der Marcioniten (vgl. Herzogs Real-Encykl. Art. Marcion).
Auch die Marcioniten lehrten, daß die Welt nicht das Werk des höchsten Gottes, sondern einer ihm im letzten Grunde untergeordneten Macht sei.
Dieser Demiurg, der Schöpfer und Herr aller Menschen, hat sich ein Volk erwählt: er ist der Gott der Juden, der Gott des Alten Testaments. Er ist der, der nach dem Grundsatz der strafenden, vergeltenden Gerechtigkeit handelt, ein anderer, als der gütige Gott des Neuen Bundes. Er ist weder allwissend noch allmächtig, wie jener. In die Welt dieses Demiurgen greift der gute Gott ein, indem er selbst auf die Erde kommt und die vom Judengott Verworfenen befreit.
Während Marcion selbst zwei Grundprinzipien annahm, gab es Marcioniten, die τρεῖς φύσεις lehrten (H.R.-Enc. 275). »Es ist möglich, daß die Lehre von den drei Prinzipien im 4. Jhdt. unter den Marcioniten die vorherrschende gewesen ist« (ebda.). Eine ausführliche Darstellung dieses Systems gibt der Wardapet Eznik (H.R.-Enc. 276). Der »Gott der Gesetze« hat die Welt und ihre Geschöpfe aus der Materie erzeugt. Während er dann in den Himmel stieg, hat die »Materie« von dieser Welt Besitz genommen. Aber der Schöpfergott bleibt Herr der Welt und versucht als solcher den Adam, der ihm edel und würdig zum Dienste erscheint, der Materie zu stehlen und mit sich zu verbünden. Als ihm das gelingt, schafft die zürnende Materie viele[21] Götzen und füllt mit ihnen die Welt, so daß der Name Gottes, des Herrn der Geschöpfe, untergeht. Um sich zu rächen, wirft dieser alle Geschöpfe nach ihrem Tode in die Hölle.
Über den zwei Arglistigen, dem Herrn der Geschöpfe und der Materie, wohnt aber im dritten Himmel der gute und »fremde« Gott. Ihn schmerzt jene Grausamkeit und die Quälereien, mit denen diese beiden die Welt verfolgen. Er sendet seinen Sohn in Menschengestalt zum Erlösungswerk. Der Gott der Gesetze bemerkt ihn und läßt ihn ans Kreuz schlagen. Jesus befreit dann die Gefangenen der Hölle und hält Gericht mit dem Gott der Gesetze, der ihm zur Genugtuung alle überläßt, die an ihn glauben.
Die Marcioniten sind im Abendland, wo sie indes bald von den Manichäern aufgesogen wurden, und mehr noch im Morgenland verbreitet gewesen, in dessen Sektengeschichte sie jahrhundertelang eine Rolle spielten. Eznik schildert, wie man annehmen darf, armenische Marcioniten. Nun ist es aber sehr wahrscheinlich, daß die in Armenien auftretende Sekte der Paulicianer genetisch mit den Marcioniten zusammenhängt (H.R.-Enc. 276). Wenn wir nun nachweisen, daß die Paulicianer in Bulgarien als Bogomilen fortlebten und daß die bulgarische Schöpfungssage bogomilisch ist, so folgt, daß in dieser Sage nicht bloß östliche (iranisch-indische) Einflüsse, sondern auch gnostische Elemente vorliegen. Und da in Armenien starke iranische Einflüsse herrschten (vgl. S. 12 die Sage von Ormuzd, der auf Ahrimans Rat die Sonne erschafft), so folgt, daß die Vereinigung gnostischer und iranischer Elemente, wie die Demiurgenrolle Satanaels einerseits und die Aussendung der Biene andererseits (s. oben S. 3) bereits in Armenien vollzogen war.