A. Die Jesiden.

[27] Die Glaubensansichten der Jesiden erinnern vielfach an die Religion des Irans. Die Zervaniten waren zum Teil der Meinung, daß Ahriman ursprünglich gut war und dem Ormuzd diente (Spiegel II, 178). Die Jesiden sagen, daß ihr Satan (Maelk Taūs) zwar vor Gott sündigte, indem er sich gegen ihn empörte, doch sühnte er seine Sünde durch langes Umherschweifen in der Welt, bis er seinen Platz bei Gott wieder erhielt (Gilbert 394). Andere glauben, daß dem Maelk Taūs noch nicht verziehen ist, doch daß er begnadigt werden wird, wie auch einige persische Bücher lehren, und deshalb müssen wir ihn anbeten, wie wir auch einen Favoriten achten müssen, der zeitweilig in Ungnade verfiel (Kovalevsky 179–180).

Auch die Legenden der Jesiden beruhen zum Teil auf parsischen Vorbildern. Ich führe zunächst eine einfache dualistische Erzählung an:

Am Anfang erschuf Gott die Welt schön und vollkommen in all ihren Teilen. Der Schöpfer war befriedigt, als er sein Werk ansah, und wollte sich schon ausruhen, als der mächtige, dunkle Maelk-Taūs vor ihm erschien und zu ihm mit Donnerstimme sprach: Dein Werk ist nicht vollkommen, großer Schöpfer, denn es ist alles einförmig und besitzt nicht das nötige Gleichgewicht; es kann kein Licht ohne Finsternis geben, keine Tage ohne Nächte, keine Wohlgerüche ohne üble Gerüche, keine Engel ohne Teufel. Das Schöne und Gute kann nur aus Gegensätzen entstehen. Da sagte Allah: Geh und schaffe. Maelk-Taūs stieg sogleich vom Himmel nieder, um seine Wünsche zu erfüllen. Der Schatten seiner großen Flügel bedeckte die Erde und das Weltall. Sein eisiger Hauch schuf das Böse im Gegensatz zum Guten, die Nacht begann dem Tag zu folgen, die Kälte der Wärme, der Sturm der Ruhe. Giftpflanzen wuchsen auf der Erde, wilde Tiere bevölkerten die Wälder, Ungeheuer wurden unter den Menschen geboren, und die Sünde wuchs schnell. Da erschienen auch böse Geister und versuchende Teufel. Als Gott die Verwirrung und Entweihung der einst so vollkommenen und schönen Welt sah, erzürnte er und verfluchte Maelk-Taūs. Der stieg vom Zorne Allahs erschreckt auf die Erde herab[27] und irrte dort umher, ohne Obdach zu finden, nur die Jesiden in Mesopotamien nahmen ihn auf, und seitdem hilft er ihnen (Kovalevsky S. 174).

In dieser Legende sind offenbar iranische Themata entwickelt. Wir werden im 4. Kapitel die Teufelsschöpfungen kennen lernen, wie die parsische Religion sie lehrte. Hier sei nur hervorgehoben, daß zweierlei an zervanitische Tradition erinnert:


1. Dem Gedanken, daß der Gegensatz in der Welt nützlich und zu deren Vervollkommnung notwendig sei, entspricht der Satz in dem Buche Ulemâ-i-Islâm: Zrvan habe den Ahura Mazda, wie auch den Aḡrô mainyus nur deshalb geschaffen, damit sie durch die Vermischung von Gutem und Bösem die verschiedenartigen Dinge hervorbrächten (Spiegel II, 178).

2. Der Schöpfer ist nicht, wie in der orthodoxen Religion, der Allwissende, dem bösen Prinzip Überlegene. Er erkennt die verderbliche Absicht des Maelk Taūs nicht, sondern hört auf dessen Rat, indem er sagt: »Geh und schaffe!« Als er dann vor der vollendeten Tatsache der Weltverderbnis steht, ist er der Betrogene, der wohl zürnen und strafen, aber das Geschehene nicht wieder gut machen kann. Dieser auch für unsere späteren Kapitel wichtige Zug kann nur aus spätzervanitischer Zeit stammen, in der Ahriman dem Schöpfer an klugem Rate überlegen erschien. (Vgl. oben S. 12.)


Eine andere Sage der Jesiden schildert Maelk Taūs nicht als Weltschöpfer, sondern als erhabenen Geist, der die Menschen aus ihrer Unwissenheit befreien will; gleich dem Prometheus bringt er ihnen das Feuer und erleuchtet ihre Seelen gegen Gottes Willen, der ihn für diesen Ungehorsam verflucht und aus dem Himmel verstößt (Kovalevsky 177).

Auch dies deutet darauf hin, daß die »Teufelsanbetung« der Jesiden nichts weiter ist als ein Abklatsch der spätzervanitischen Verehrung Ahrimans, dem ein bedeutender Anteil an der Welterschaffung zugeschrieben wurde.1

Zervanitisch sieht auch folgende Legende aus, die Siouffi bei den Jesiden aufgefunden hat:

Im Anfang der Welt war ein Ozean, in dessen Mitte stand ein von. göttlicher Kraft geschaffener Baum. Viele Jahrhunderte lang saß Gott in Gestalt eines Vogels auf diesem Baume. In einem anderen, weiter entfernten Gebiete stand ein mit vielen Blumen bedeckter Rosenbusch. Auf[28] einer seiner Blumen befand sich Sheik-Sinn oder Sheik-Hassan el-Basseri, den Gott aus sich selbst hatte hervorgehen lassen.

Nun hatte Gott aus seinem Lichte den Erzengel Gabriel erschaffen, und zwar war dieser auch in Gestalt eines Vogels. Gabriel ließ sich zu Gott auf den Baum im Ozean nieder, und Gott, fragte ihn: »Wer bist du? Wer bin ich?« Der Erzengel antwortete: »Du bist du und ich bin ich.« Mit dieser stolzen Antwort wollte er dem Gotte zu verstehen geben, daß jeder von ihnen seine besondere Wichtigkeit habe, und daß er, Gabriel, sich wohl mit dem Schöpfer auf gleiche Stufe stellen könne. Als Gott dies hörte, wurde er sehr zornig, hackte auf den Vogel und vertrieb ihn vom Baum. Der Engel flog davon und teilte die Luft mit seinem Flügelschlag. Jahrhundertelang flog er in der Welt umher, da wurde er zuletzt müde und ließ sich wieder auf den Baum nieder. Da fragte ihn Gott: »Wer bist du? Wer bin ich?« Aber der Verbannte antwortete wie früher. Da hackte der Vogel wieder auf ihn und vertrieb ihn, so daß er von neuem den leeren Raum durchziehen mußte, und es gab nichts, worauf er sich ausruhen konnte. Da gelangte er einmal, als er ganz erschöpft war, durch Zufall an den Rosenbusch zu Sheik-Sinn. Als der ihn sah, rief er laut: »Wohin gehst du, warum wendest du dich hierher?« Gabriel antwortete: »Weit von hier wächst ein Baum, auf dem sitzt ein Vogel. Jedesmal, wenn ich versuche, mich dort niederzulassen, hackt er mich und verjagt mich.« »Was hat dir denn der Vogel gesagt,« fragte Sheik-Sinn, »und was hast du geantwortet, daß er dich so behandelt?« Da erzählte ihm Gabriel, was er mit Gott gesprochen habe, und Sheik-Sinn lehrte ihn, wie er sich verhalten solle, um aus seiner Not befreit zu werden. »Kehre zurück zu dem Baume,« so riet er ihm, »und wenn Gott dich nochmals fragt, so antworte: ›Du bist der Schöpfer und ich dein Geschöpf, du der Erhalter und ich der Erhaltene‹, dann wird er dir erlauben, daß du dich zu ihm setzt.« Darauf flog der Erzengel zu Gott zurück und antwortete auf seine Frage nach dem Rate des Sheik-Sinn. Und Gott sprach zu ihm: »Wer hat dich diese Worte gelehrt?« und Gabriel antwortete: »Ein Wesen, das ich auf einem Rosenbusch im Ozean fand.« »Aha«, sagte Gott, »das ist ja unser Gott Al-Uarkani« (nach Siouffi heißt dieser Name soviel wie: der zwischen Busch und Rosenblättern lebende.) Gabriel aber blieb danach bei Gott.

Worin liegt die Verwandtschaft mit der zervanitischen Lehre? Zunächst in der Verehrung, mit der Gott von Sheik-Sinn spricht, indem er ihn unsern Gott nennt, und in der Überlegenheit, mit der jener den Streit zwischen Gott und Gabriel zu lösen weiß: Sheik-Sinn ist gleich Zrvan. Gott und Gabriel könnten sehr wohl Ormuzd und Ahriman entsprechen, wie denn auch die Frage Gottes: Wer bist du? genau dieselbe Frage ist, die Ormuzd an Ahriman richtet, und der Anspruch Gabriels,[29] Gott gleich zu sein, ist nichts anderes als Ahrimans neidische Gottsucht. Der Name Gabriel begegnet auch in der mandäischen Sage als Bezeichnung des Bösen (des Ptahil), und so nimmt er bei den Jesiden offenbar die Stelle des Maelk-Taūs (= Satan) ein. Zu der Überhebung Gabriels, die sich in seiner stolzen Antwort ausdrückt, und zu der Situation des Götterstreits – dem Sitzen auf dem Baume – vergleiche man die indische Sage von den Göttern auf dem Lotos. Im Westen werden wir die Erinnerung an dieses Motiv in etwas anderer Form wiederfinden.2

Wenn die Götter als Vögel gedacht werden,3 so werden wir weiterhin zahlreiche Parallelen in europäisch-asiatischen Sagen nachweisen.

Eine zweite, von Siouffi mitgeteilte Variante lautet folgendermaßen:

Im Anfang der Welt saßen sechs Personen in einem Kahne und trieben jahrhundertelang auf dem Ozean umher. Im Laufe der Zeit begannen sie, sich darüber zu streiten, wer von ihnen der allmächtige Gott sei, und es wäre beinahe ein großer Zwist entstanden. Sie berieten sich nun und sahen ein, daß unmöglich alle sechs gleich an Macht und Bedeutung sein könnten, und beschlossen, den den Allmächtigen zu nennen, der die Kraft habe, das Wasser zu verdichten, bis es fest werde, und der das Himmelsgewölbe erbauen könne. Ein jeder versuchte nun das Werk und schwamm in den Ozean hinaus, doch waren alle Anstrengungen umsonst. Zuletzt kam die Reihe an Gott. Er spie in die Wellen, und die Wasser verwandelten sich sogleich in Erde. Bei dieser Umwandlung erbrauste der Ozean gar mächtig, große Mengen dichten Rauchs stiegen auf und erfüllten den Raum, so daß alles in Finsternis gehüllt wurde. Da schuf Gott zur Rettung aus der Finsternis zwei große Lichter und die Sterne, so daß die Welt erleuchtet wurde. Danach schuf er den Himmel, die Hölle und das Paradies.

Diese Erzählung hat mit den nordasiatischen und europäischen Sagen die Fahrt der Götter auf dem Ozean gemein, den Anspruch der untergeordneten Wesen auf Göttlichkeit, die schöpferische Kraft des Gottesspeichels, den [hier ins Sechsfache gesteigerten] Dualismus beim Tauchen, die Ohnmacht der andern im Vergleich zu Gott. Solche Übereinstimmungen beweisen,[30] daß eine gleiche – vermutlich iranische – Sage sowohl der Tradition der Jesiden als auch der europäisch-asiatischen Tradition zugrunde liegt.

Fußnoten

1 Anderes erinnert wieder an den christlich-moslemischen Satan, da die Jesiden auch unter nestorianischem und moslemischem Einfluß gestanden haben (vgl. unten die Sage von der Schlange in Noahs Arche). Er erscheint nämlich auch als Versucher Adams und Evas im irdischen Paradies, wo er sein Ziel erreicht, indem er ihnen eine Weintraube anbietet. Er verliert also allmählich die Göttlichkeit, doch wird er noch als Schöpfer der Frau dargestellt.


2 Vgl. die großrussische Erzählung, in der der Böse Gottes Bruder sein möchte, aber eine ihm auferlegte Kraftprobe nicht zu bestehen vermag (näheres siehe S. 48). Man beachte auch eine charakteristische Bemerkung in der weiterhin zu besprechenden Sage vom Tiberiassee: Als der Teufel auf Gottes Frage: »Wer bist du, wer bin ich?« seinen Meister und Herrn anerkannt hat, wird ausdrücklich hinzugefügt: »hätte er nicht so gesprochen, Gott hätte ihn zerschmettert.« Das klingt wie eine Erinnerung an die von Gott erzwungene Demütigung Gabriels, und es ist, als wäre die zweimaliger Weigerung des Teufels einfach weggelassen.


3 An den Wänden des jesidischen Haupttempels finden sich Skulpturbilder, deren Sinn die Jesiden jetzt nicht mehr verstehen, oder Fremden nicht erklärea wollen. Eins von diesen, das sich an der Außenseite befindet, stellt den Weltbaum, mit zwei Tauben dar (Menant, Les Yézidis).


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 31.
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