C. Die Sage der Zigeuner.

[34] Wenn unsere bisherige Beweisführung richtig ist, so darf man mit notwendiger Konsequenz den Schluß ziehen, daß auch die magyarischen und transsilvanischen Zigeuner – ein asiatischer Stamm! – eine Schöpfungssage besitzen, die sie auf asiatischem (etwa irano-mesopotamischem) Boden sich aneigneten. Die Beschaffenheit dieser Sage wird altertümlich sein müssen, und wiewohl die Zigeuner den Slawen benachbart leben und sogar rings von Slawen umwohnt sind, so wird doch eben jene Altertümlichkeit die Annahme ausschließen, daß etwa Entlehnung aus slawischer Tradition vorliege. Eine Prüfung des Inhalts jener Zigeunersage möge zeigen, daß deutliche Anzeichen nur auf östlichen und keinen anderen Ursprung hinweisen.

Sie lautet: Als die Welt noch nicht war, war nur ein großes Wasser; da dachte unser Gott, daß er eine Welt erschaffe. Er wußte nicht, wie und was für eine Welt er machen solle. Und er war erzürnt, weil er[34] keinen Bruder und keinen Freund hatte. Er warf zornig seinen Stock in das große Wasser. Da sah er, daß sein Stock ein großer Baum geworden war [der in der Tiefe Wurzeln schlug] und unter dem Baume [Var.: auf dem Baume!] saß der Teufel, der lächelnd sprach: »Guten Tag, mein guter Bruder! Du hast keinen Bruder und keinen Freund; ich will dir ein Bruder und Freund sein!« Gott freute sich und sagte: »Nicht sei mein Bruder, sondern nur mein Freund! ich darf keinen Bruder haben!« Neun Tage lang waren sie zusammen und fuhren auf dem großen Wasser herum, und Gott sah, daß der Teufel ihn nicht liebte. Einmal sagte der Teufel: »Mein guter Bruder, wir zwei leben schlecht, wenn nicht noch mehrere sind; ich möchte noch andere erschaffen!« – »Erschaffe denn auch andere,« sagte Gott. »Aber ich kann nicht!« erwiderte der Teufel, »ich wollte schon eine große Welt erschaffen, aber ich kann nicht, lieber Bruder!« »Gut,« sprach Gott, »ich will eine Welt erschaffen, tauch in das große Wasser hinunter und hole Sand, aus dem Sande will ich eine Erde machen.« Da sprach der Teufel: »Wie willst du aus dem Sande eine Erde machen? ich verstehe es nicht!« Und Gott erwiderte: »Ich spreche meinen Namen aus, und Erde wird aus dem Sande. Geh! und bringe Sand!« Der Teufel tauchte unter und dachte, daß er sich eine Welt erschaffen werde, und als er Sand hatte, da nannte er seinen Namen. Aber der Sand brannte ihn, und er warf ihn weg. Als er ohne Sand zu Gott kam, sagte er: »Ich finde keinen Sand!« Gott sprach: »Geh nur und hole Sand!« Neun Tage lang holte der Teufel Sand und sagte dabei immer seinen Namen, aber der Sand brannte ihn, und er warf ihn weg. So heiß wurde der Sand, daß er den Teufel immer verbrannte und er am neunten Tage ganz schwarz war. Er kam zu Gott, und dieser sagte: »Du bist schwarz geworden! Du bist ein sehr schlechter Freund! Geh und hole Sand, aber sprich nicht deinen Namen aus, denn sonst wirst du ganz verbrennen!« Der Teufel ging abermals und brachte endlich Sand. Da machte Gott daraus eine Erde, und der Teufel freute sich sehr und sprach: »Hier unter dem großen Baume wohne ich, und du, mein lieber Bruder, suche dir eine andere Wohnung!« Da zürnte Gott und sprach: »Du bist ein sehr schlechter Freund! Dich brauche ich nicht! Geh weg!« Da kam ein großer Stier heran und trug den Teufel mit sich fort. Und vom großen Baume fiel Fleisch auf die Erde, und aus den Blättern des großen Baumes sprangen Menschen hervor. So erschuf Gott unsere Welt und die Menschen.


  • Literatur: (v. Wlislocki, Märchen und Sagen der Transsilvanischen Zigeuner S. 1 fast wörtlich = Gypsy Lore Society 2, 67. Dort ist das Abfallen des Fleisches als Folge des Brüllens des Teufels dargestellt. Die beiden eingeklammerten Zusätze stammen ebenfalls aus dieser Quelle.)

Altertümlich ist hier:


1. Gottes Verdruß, daß er allein ist (vgl. transkaukasische Sage).[35]

2. Das Erscheinen des Teufels, der aus dem Abgrund auf den Baum kommt (vgl. Altaisage).

3. Das Gespräch auf dem Baume, die Örtlichkeit und der Gleichheitsanspruch, stimmen mit der jesidischen Sage und der indischen Sage vom Götterstreit auf dem Lotos im Meer überein.

4. Entstehung der Menschen vom Baum (Bundehesh Kap. 15).

5. Der Büffel, der den Teufel bewältigt (vgl. den eingebornen Stier des Parsismus, mit dem Ahriman kämpft).


Das alles spricht für den unmittelbaren indisch-iranischen1 Ursprung der Zigeunererzählung.

Fußnoten

1 Indisch-iranische Einflüsse auf die Zigeuner weist auch sonst nach: Kounavine, Journal of the Gypsy Lore Society 2, 93 ff.; z.B. findet sich Anromori = Ahriman bei ihnen (ebda. S. 99).


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 36.
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