6. Warum die Schwalbe einen gegabelten Schwanz hat.

[332] Es ist schon lange, lange her, da herrschte Salomo, Davids Sohn, über alle Dinge. Der mächtige König verstand die Sprache der Menschen, das Schreien des Rotwildes im Walde, die Rufe der vierfüßigen Tiere, das Zischen der Schlangen, das Zwitschern der Vögel, das Summen der Insekten und auch, was die Bäume im Walde und die Blumen am Wege sich erzählen.

Salomo hatte jedem Wesen seine Nahrung bestimmt, den einen das Fleisch der schwächeren Tiere, den anderen die Kräuter der Wiese oder die Früchte des Waldes. Aber zur Schlange sagte der Sohn Davids: »Du wirst dich vom Blute des Menschen nähren!« Und die Schlange verbarg sich im Gestrüpp, lauerte dem vorübergehenden Menschen auf und stürzte sich auf ihn, um sich von seinem Blute zu nähren.

Da murrten die unglücklichen Menschen so sehr, daß ihr Klagen bis zu den Ohren des mächtigen Herrschers drang. Und Salomo fragte den Menschen: »Warum beklagst du dich?« »Herr,« antwortete der Mensch, »die Schlange lebt von unserem Blut, bald wird unser Geschlecht vertilgt sein.« »Geh nur,« sprach Davids Sohn, »ich werde an dein Flehen denken!«

Der große Salomo überlegte lange, und eines Tages ließ er allen Tieren der Schöpfung sagen, daß er ihnen befehle, sich auf einer ungeheuren Ebene zu versammeln. Der Löwe, der Tiger, der Wolf, das Pferd, der Elefant, der Adler, der Geier und tausend und abertausend von Tieren kamen auf den Befehl des Königs herbei. Salomo setzte sich auf seinen Thron und sagte: »Ich habe euch versammelt, um eure Klagen zu hören. Sprecht!« Da näherte sich der Mensch dem Throne, verneigte sich und sagte: »Herr, ich bitte, daß die Schlange sich das Blut eines anderen Geschöpfes zur Nahrung wähle.« – »Und warum?« – »Weil ich das erste unter den Geschöpfen bin.« Die Tiere fingen darauf an zu murren; die einen schrieen, die andern brummten kläfften, bellten, brüllten oder heulten. »Seid ruhig,« befahl Salomo. »Die Mücke, das kleinste der Tiere, soll von heute an suchen, was das zarteste Blut der Welt ist. Welches es auch sei, selbst das des Menschen, schwöre ich der Schlange zu geben. Heute in einem Jahr versammeln wir uns wieder an diesem Ort, um den Bericht der Mücke zu hören.«

Die Tiere gingen auseinander, und während des Jahres besuchte das kleine Insekt alle und kostete ihr Blut. Als sie dann zur Versammlung des Königs Salomo zurückkehrte, begegnete ihr die Schwalbe. »Guten Tag, Schwalbe!« sagte sie. »Willkommen, liebe Mücke! Wohin so schnell?« »Zur Versammlung aller Tiere.« »Ach richtig! Ich hatte den Auftrag ganz vergessen, den dir[332] unser mächtiger Herrscher gegeben hat. Nun, welches Blut ist denn das köstlichste?«

»Das Menschenblut.«

»Wie?«

»Ich sage, das Menschenblut,« wiederholte die Mücke, welche meinte, der Vogel habe sie nicht verstanden. Aber es war nur eine List. Als die Mücke den Mund wieder zum Sprechen öffnete, stürzte sich die Schwalbe auf das Insekt und riß ihm die Zunge aus. Die Mücke setzte wütend ihren Weg fort, während die Schwalbe ihr folgte, und so gelangten sie zuletzt zum Versammlungsort. »Nun,« fragte Davids Sohn, »hast du vom Blute aller Tiere gekostet?« Das Insekt machte eine Bewegung, um anzudeuten, daß es seine Aufgabe vollendet habe. »Und welches ist das zarteste Blut?« fragte Salomo weiter. Die Mücke war in großer Verlegenheit, denn seit ihr die Schwalbe die Zunge genommen, konnte sie nicht reden. »Ksss! ... kssssss! ... ksssssssss! ...« machte sie. »Was sagst du?« »Ksss! ... ksss! ... ksssssss! ...« antwortete die Mücke verzweifelt. Salomo stand bestürzt da, da trat die Schwalbe vor ihn hin. »Herr,« sagte sie, »Herr, die Mücke ist plötzlich stumm geworden. Aber als ich mit ihr hierher reiste, hat sie mir das Ergebnis ihrer Untersuchungen mitgeteilt.« »So sprich!« befahl Salomo. »Der Frosch ist das Tier, dessen Blut am zartesten ist. So hat mir die Mücke gesagt. Nicht wahr, liebe Mücke?« »Ksss! ... ksss! ... ksssssss! ...« summte das Insekt. »Nun gut,« sagte Salomo, »von jetzt an wird sich die Schlange vom Blut des Frosches nähren. Der Mensch kann in Frieden leben.« Und der König löste die Versammlung der Tiere auf. Aber die Schlange war nicht zufrieden mit dieser Verfügung, und in dem Augenblick, als die Schwalbe an ihr vorbeiflog und noch über den guten Streich lachte, den sie ihr gespielt, stürzte sich die Schlange auf sie. Aber der Vogel bemerkte den Sprung und schwang sich mit einem kräftigen Flügelschlag in die Höhe. Die Schlange konnte nur die Mitte des Schwanzes erwischen. Seit dieser Zeit hat die Schwalbe einen gegabelten Schwanz, und seitdem muß sich die Schlange vom Blut der Frösche nähren. – Die Schwalbe aber liebt noch immer die Menschen, und diese sind nicht undankbar. Während sie die anderen Vögel verfolgen, gewähren sie der Schwalbe sogar einen Platz an der Schwelle ihrer Häuser und betrachten ihre Gegenwart als ein glückbringendes Zeichen.


  • Literatur: Revue des trad. pop. I, 80 = Carnoy-Nicolaïdes, l'Asie mineure, p. 227 f. Von einem Circassier auf Lesbos.

Parallelen zu diesen Sagen sind uns schon oben (Kap. 13) als Sündflutsagen begegnet. Hier darf noch die Vermutung hinzugefügt werden, daß die Urform jener Sündflutsagen, wie auch unserer salomonischen Sage, in Asien zu suchen sei. Und zwar sind es Erzählungen der Mongolen, die sich als Abbild solcher Urform, wenn nicht als diese selbst, betrachten lassen.


Der Vogelkönig Chan-garudi sandte zwei Vögel, die Schwalbe und Beutelmeise (parus pendulinus) und eine Biene auf die Erde, um auszukundschaften, wessen Fleisch am schmackhaftesten sei. Als sie zurückkehrten, begegnete ihnen ein Burchan und fragte, wessen Fleisch denn am besten schmecke. Sie antworteten: Des Menschen. Der Burchan, um den Menschen zu retten, überredete[333] sie, dem Vogel Chan-garudi nichts davon zu erzählen. Die Vögel waren damit einverstanden. Aber weil sie der Biene mißtrauten, schnitten sie ihr die Zunge aus. Sie kam zuerst an und erzählte, wie ihnen der Burchan angeraten, dem Chan-garudi, daß das schmackhafteste Fleisch die Schlange habe. Dann kam die Biene. Aber auf die Frage Chan-garudis konnte sie nur ein unverständliches Summen hören lassen.


  • Literatur: Sumcov, Etnogr. Obozrênie XVII S. 178 = Potanin, Očerki II, 159.

In einer mongolischen Variante erscheint statt der Biene die Wespe. Sie gilt als Geschöpf des Schulmus (des Teufels). Als dieser sie entsandt hat, das schmackhafteste Blut zu erkunden, kostet sie bei verschiedenen Tieren und kommt mit der Botschaft zurück, daß des Menschen Blut das schmackhafteste sei. Die Schwalbe begegnet ihr, und um die Menschen vor der ihnen drohenden Gefahr zu retten, beißt sie der Wespe die Zunge ab, so daß diese nichts als Summen hervorbringt.


  • Literatur: (Ebd. = Potanin IV, 183.)

Eine Wotjakensage lautet, wie folgt:


Einst lebte auf Erden eine gewaltige Schlange, die sich vom Blute der Tiere ernährte. Sie schickte die Mücke aus, das Blut der Tiere zu kosten. Damals hatte die Mücke aber eine längere Zunge als jetzt. Sie flog überall in der Welt umher und erzählte dann der Schlange, das Pferdeblut sei am köstlichsten. Die Schlange sandte sie wiederholt auf Kundschaft aus, und nach einiger Zeit kam die Mücke mit der Botschaft zurück, daß Menschenblut süßer sei als alles Tierblut. Sie war aber mit ihrem Bericht noch nicht zu Ende, als die Schwalbe hinzustürzte und ihr die Zunge wegriß, damit sie nichts über den Menschen sagen könne. Die Mücke zischte nur, die Schlange aber ward böse auf die Schwalbe und packte sie beim Schwanze. Doch sie riß sich los und ließ nur das Mittelstück ihres Schwanzes zurück. Seitdem hat sie den Gabelschwanz. Auch genießt sie seitdem großes Ansehen bei den Menschen, sie soll Glück bringen, und darum baut man ihr das Nest unter dem Dach, und man tötet sie nicht.


  • Literatur: Sumcov, ebd. S. 180 = Vereščagin, Votjaki, 72.

In jenen drei Sagen findet sich keine Beziehung auf Noah oder Salomo. Eine solche ist in der Tat ganz überflüssig und erscheint als spätere Ausschmückung.

Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 332-334.
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