I. Die Schlüsselblume.

[190] 1. Aus Deutschland.


Daß der heilige Petrus die Schlüssel zur Himmelspforte hat und niemand in den Himmel einläßt, der's nicht verdient, weiß jedes Kind. Einmal wurde ihm gemeldet, einige Unholde hätten sich Nachschlüssel zur Himmelstür angefertigt. Das war nun freilich ein großer Schrecken! Und Petrus entsetzte sich so sehr, daß er in der ersten Aufregung sein Schlüsselbund zur Erde fallen ließ. Ein Engel mußte es wiederholen. An der Stelle aber, wo das Bund die Erde berührt hatte, entstand die Schlüsselblume. Sie ist zur Erinnerung an die Begebenheit geblieben, und man nennt sie Himmelschlüssel oder auch (in Tirol) Petersschlüssel.


  • Literatur: Nach Franz Söhns, Unsere Pflanzen. 4. Aufl. S. 144. Vgl. Zingerle, Sitten, Bräuche und Meinungen des Tiroler Volkes. 2. Aufl. 1871. S. 110.

2. Aus den Niederlanden.


a) Sankt Peter ging einmal zur Himmelstür, um sie aufzuschließen. Aber zum Unglück fiel ihm der Schlüssel bund aus der Hand, und die Himmelsschlüssel fielen herunter. Es dauerte lange, bis sie auf der Erde waren. Dann fielen sie gerade auf einen Kirchhof, und auf der Stelle, wo die goldenen Schlüssel lagen, entsproßte eine schöne, unbekannte Blume. Am folgenden Morgen kam eine Waise auf den Kirchhof, um am Grabe der Eltern zu beten, und fand da die Schlüssel bei den fremden Blumen. So verbreitete sich die Kunde allüberall, und man nannte die Blume: Schlüsselblume oder Himmelsschlüsselchen.


  • Literatur: Aus Nordbrabant: Volkskunde 15, 116. Var. aus Westflandern im wesentlichen gleich: Mont en Cock, Vlaamsche Vertelsels S. 121.

[190] b) Als Sankt Peter am Kreuze hing und am Sterben war, kamen die Engel, um ihn zum Himmel zu geleiten. Sie gaben ihm die Schlüssel des Himmels in die Hand, aber das erfreute ihn so, daß er sie zur Erde fallen ließ. Auf dem Platz, wo sie zu liegen kamen, entstanden die Schlüsselblumen.


  • Literatur: Fr. Coeckelberg, Sprookjes S. 37 = Ons Volksleven 10, 75; Joos, Vertelsels 1, 40.

3. Aus den Alpen (Nordwest-Italien).


Als Sankt Peter einmal am Paradiestor eingeschlafen war, ließ er einen der beiden Schlüssel fallen, die er in Händen hatte. Der Schlüssel fiel in den Mond. Petrus holte ihn wieder, aber der Abdruck des Schlüssels ist noch jetzt sichtbar.


  • Literatur: Aus dem Tal von Aosta. La Tradition 18, 300.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 190-191.
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