VI. Einzelne Sagen.

[261] 1. Aus Island.


Einstmals entbot die Jungfrau Maria sämtliche Vögel zu sich und befahl ihnen, über einen brennenden Scheiterhaufen zu schreiten. Die Vögel wußten, daß sie die Himmelskönigin war und große Macht hatte; daher wagten sie nicht, ihrem Gebot ungehorsam zu sein, und sprangen sogleich alle in das Feuer hinein und hindurch; nur das Schneehuhn nicht. Als sie aber aus dem Feuer herauskamen, waren ihrer aller Füße federlos und bis auf die Haut versengt und sind von da an bis zum heutigen Tage so geblieben. Und das haben sie davon, daß sie für die Jungfrau Maria durch das Feuer gegangen sind. Nicht besser aber erging es dem Schneehuhn, dem einzigen Vogel, der sich geweigert hatte, durchs Feuer zu gehen; denn Maria zürnte ihm und bestimmte, es solle von allen Vögeln der unschädlichste und wehrloseste werden, aber dabei so verfolgt, daß es beständig, außer[261] während des Pfingstfestes, in Furcht schweben müsse, und zwar solle der eigene Bruder des Schneehuhns, der Falke, es sein Leben lang verfolgen und töten und von seinem Fleische leben.

Eine Gnade jedoch gewährte die Jungfrau Maria dem Schneehuhn, nämlich die, daß es je nach den Jahreszeiten die Farbe wechseln und im Winter ganz weiß, im Sommer braungrau sein dürfe; dann könne es der Falke nicht gar so leicht erkennen und im Winter nicht vom Schnee, im Sommer nicht vom Heidekraut unterscheiden.

An dieser Bestimmung hat sich nichts wieder geändert, und ebensowenig daran, daß der Falke es verfolgt, tötet und frißt; nicht eher aber, als bis er an das Herz des Schneehuhns gekommen ist, merkt er, daß es seine Schwester ist. Er wird dann jedesmal, wenn er ein Schneehuhn getötet und bis zum Herzen aufgefressen hat, von so großem Kummer befallen, daß er noch lange danach furchtbar schreit und klagt.


  • Literatur: Marg. Lehmann-Filhés, Island. Sagen. Auch englisch bei Powell-Magnussen, II. Serie S. 663.

Daß die Vögel nackte Füße haben, erklärt man im Rutenischen daher, daß sie sündenlos sind.


  • Literatur: Dragomanov S. 6, Nr. 11.

2. Aus Brasilien.


Eines Tages wurde im Himmel ein Fest zu Ehren der hl. Jungfrau veranstaltet. Alle Tiere der Schöpfung waren dazu eingeladen. Die Schildkröte aber, die nur kleine Tagereisen machen kann, sah kein Mittel, so hoch hinaufzugelangen. Daher bat sie den Geier, sie mit sich zu nehmen. Der Geier willigte ein, und sie setzte sich auf seinen Rücken. Doch als der boshafte Vogel in einer gewissen Höhe angekommen war, ließ er die arme Schildkröte absichtlich fallen, und sie zerschellte an einem Felsen in tausend Stücke. Da stieg die hl. Jungfrau vom Himmel nieder, sammelte die zerstreuten Stücke der Schildkröte, gab ihr das Leben wieder und überhäufte sie mit Segnungen. Den Geier aber verfluchte sie auf ewig. Seit jener Zeit ist die Schildkröte mit einer Mosaikschale bedeckt, die aus mehreren Stücken zusammengesetzt ist, und der Geier bringt Unheil allem, was er anrührt. Sein Leichnam bleibt verlassen liegen, selbst die Ameisen wollen ihn nicht.


  • Literatur: Santa-Anna Nery, Folklore brésilien p. 192.

3. Aus Poitou.


Seitdem die hl. Jungfrau der tollen Katze einen Stockschlag über das Kreuz versetzt hat, schleppt sie sich auf den Pfoten hin und kann kein Übel anrichten.


  • Literatur: Sébillot, Folklore 3, 139 = L. Pineau, Le Folklore du Poitou 524.

4. Aus Italien.


a) Wer das Fleisch der Katze ißt, wird exkommuniziert, weil die Katze dem Teufel verwandt ist. Die Katzen sehen – wie er – in der Finsternis, sie sind ganz eigentlich Söhne des Teufels.

Eine Katze macht eine Ausnahme von der Regel, die Katze Surian, die auch vorzüglich für die Mäusejagd sich eignet. Sie hat ein graues Tigerfell, und auf der Stirn trägt sie das Zeichen eines M, das so viel heißen soll wie: »Katze der Madonna«, deshalb, weil man sagt, daß die Madonna in ihrem Hause zu Nazareth eine derartige Katze gehalten hätte.


  • Literatur: Nardo = Cibele, Zoologia pop. Veneta p. 77.

[262] b) Eines Tages erlitt ein Lastschiff bei Trapani Schiffbruch. Die Mannschaft, in Lebensgefahr, wandte sich an die Madonna und bat flehentlich, sie aus der schrecklichen Bedrängnis erretten zu wollen. Die Madonna erbarmte sich ihrer: sie »ging in den Körper« eines Stockfisches und eilte, das Leck des Schiffes zu verstopfen, so daß dies gerettet wurde. Hierauf wurde der Stockfisch gesegnet und trägt in seinem Innern das Bild der Madonna von Trapani.


  • Literatur: Pitrè, Usi e cost. Sic. 3, 370. Aus Palermo. Vgl. Natursagen 1, 275.

c) Die Jungfrau Maria besuchte als Kind auch die Schule der hl. Sibylle und lehrte ihre Gefährten heimlich Messe lesen. Eines Tages merkte die hl. Sibylle, daß alle Schülerinnen Messe lasen und fragte: »Wer hat euch das gelehrt?« »Das ist Maria gewesen,« antworteten sie. Da zündete die hl. Sibylle voll Zorn ein großes Feuer an und befahl allen Schülerinnen, die Bücher in die Flammen zu werfen. Sie taten es alle, aber Maria verbarg das ihrige unter dem Arm. Die hl. Sibylle fragte Maria: »Hast du auch dein Buch verbrannt?« Sie antwortete: »Ja, ich habe es nicht verbrannt.« Maria hatte die Wahrheit gesagt, aber die hl. Sibylle hörte auf das erste Wort und verstand sie so falsch.

Seither haben wir alle Achselhöhlen Sie sind durch den Eindruck des Buches unter dem Arm Marias entstanden. Und so kam es auch, daß der Engel Gabriel der Maria während des Messelesens erschien.


  • Literatur: de Nino, Usi e cost. abruzz. 4, 16.

5. Aus Malta.


Die Mutter Jesu hatte etliche Hühner, junge Geschöpfe, die das erste Ei legen sollten. Und da es im Hause ärmlich zuging, freute sie sich auf die Eier und wachte über den Hühnerstall. Eines Tages nun sollte eins der Tiere legen, aber die Mutter Jesu fand nur die leere Schale vor, was sie sehr betrübte. Und so kam es, daß sie rief: »Möge der, der das erste Ei meiner Henne ausgetrunken, ein Dieb werden, vor den Menschen als Dieb gelten! Möge jeder, der das erste Ei einer Henne ißt, ein Dieb werden!« (Aberglaube der Malteser, die darum ein erstes Ei nur mit anderen gemischt essen.)

Seit der Zeit gilt der Igel als Dieb, denn er war es, der den Eierdiebstahl.


  • Literatur: Frdl. Mitt. von Frl. B. Ilg.

6. Aus Deutschland.


a) Der Krebs war einst ein giftiges Tier. Die hl. Maria faßte es einmal in ihre Finger und sagte: »Du sollst den Menschen zur Nahrung dienen.«


  • Literatur: Mitt. der Schels. Gesellsch. f. Volksk. Heft III, 9 (aus Oberschlesien).

b) Von der Mutter Gottes wird erzählt, daß sie der Blindschleiche die Augen ausstach. Denn sie wußte, daß diese sonst das Kind im Mutterleibe nicht verschont haben würde.


  • Literatur: E. Meier, Sagen aus Schwaben 1, 224. Bei Birlinger, Volkstümliches aus Schwaben, 1, 381 heißt es: die Blindschleiche habe die Mutter Gottes gestochen, und seitdem sei sie blind. Vgl. Zeitschr. f. dtsch. Myth. 4, 48. Siehe auch oben S. 7.

c) Maria war mit dem Sohne hinter neun Türen versteckt. Die Blindschleiche schoß hindurch und hätte wohl die göttliche Jungfrau durchstochen, wenn der Jesusknabe den Wurm nicht mit Blindheit geschlagen hätte.


  • Literatur: Zingerle, Sitten, Bräuche und Meinungen des Tiroler Volkes, 2. Aufl., 1871, S. 95.

[263] 7. Aus Rumänien.


a) Da die Mutter Maria nicht genug Milch für ihr Kind hatte, bat sie ihren reichen Nachbar, den Besitzer einer großen Rinderherde, um Unterstützung. Der aber wies sie schroff ab. Der andere Nachbar aber, der arm war und nur eine einzige Kuh besaß, schenkte ihr bereitwilligst die erbetene Milch. Dafür belohnte ihn Maria: sein Kuhstall füllte sich mit vielen herrlichen Kühen; den bösen Nachbar aber verfluchte sie, und daher fand er statt seiner Kühe eine große Zahl roter Käfer mit schwarzen Punkten, die Ritterwanzen (Lygaeus equestris L.), rum. Kühe des Herrn, vaca Domnului.


  • Literatur: Marianu, Insectele S. 425.

b) Die Jungfrau Maria sprach mit der Sonne (rum. Maskul.!) über den Übermut des Pic-împĕrat. Da kam dieser auch schon herbei und belästigte die beiden in schlimmster Weise, da er sich auch hier als Herrscher fühlte. Die Sonne aber nahm ihn und warf ihn ins Wasser, um ihn zu ertränken. Maria jedoch erbarmte sich und rettete ihn vom Tode; was sie aber aus dem Wasser zog, war nicht mehr der Pic-împĕrat, sondern eine Mücke, die auch heute noch Furcht vor der Sonne hat und deshalb nur nachts hervorkommt (Culex pipiens L. = gemeine Stechmücke).


  • Literatur: Marianu, Insectele S. 313.

c) Die Mutter Maria wollte Christus eine Schüssel Kirschen bringen; aber soviel sie auch einen Kirschbaum schüttelte, es fiel keine einzige Kirsche herunter, denn sie waren alle dem Satan geweiht. Deshalb verfluchte Maria diese Früchte, und aus ihnen entstanden kleine Fliegen, die Trypeta cerasi L., die noch heute Sehnsucht haben nach ihren Schwestern, den Kirschen, zu ihnen kommen, sie küssen und in sie ihre Eier legen, aus denen die Maden entstehen.


  • Literatur: Marianu, Insectele S. 389.

d) Als Gott einmal Kirschen essen wollte, verwandelte sich jede Kirsche in eine Fliege, sobald er sie an den Mund brachte; Gott verfluchte sie deshalb, sie sollten nun Fliegen bleiben bis in alle Ewigkeit. Und das sind die Trypeta cerasi.


  • Literatur: Marianu, Insectele S. 389.

8. Aus Weißrußland.


Früher wuchsen die Steine so groß wie die Hütten. Einst aber stieß sich die Mutter Gottes mit dem Finger an einen Stein und sagte: »Gott gebe, daß ihr nicht so wachset!« Seitdem wachsen die Steine zwar, aber nur langsam, und sie werden nicht mehr so groß.


  • Literatur: Federowski, Lud białorusski 1, Nr. 511. Vgl. S. 86. 276. (20.)

9. Aus Polen.


Einst hatten die Schlangen Beine zum Gehen. Aber es begab sich, daß die Mutter Gottes durch einen Wald ging und eine Schlange plötzlich hinter einem Baume hervorschnellte und sie erschreckte. Da verfluchte die Mutter Gottes sie, daß sie einem Faden gleich auf Erden einherkrieche. Und seit dieser Zeit verloren die Schlangen die Beine und müssen auf der Brust kriechen.


  • Literatur: O. Kolberg, Lud 19, 201, Nr. 14.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 261-264.
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