VI. Die Menschen in der Herberge.

[20] 1. Aus Rumänien.


Da die Tiere im Stalle hungrig waren, bat Maria den Herbergswirt um Heu. Der aber wies sie ab: er habe nicht genug, denn er sei zu faul gewesen, mehr[20] Gras zu mähen. Da verfluchte ihn Maria: er solle sein Leben lang Gras mähen, ohne irgendeinen Erfolg zu erzielen. Alsbald verwandelte er sich in ein Heupferd.


  • Literatur: Marianu, Insectele 522.

2. Aus Frankreich.


a) Als die Weisen und die Schäfer dem Jesuskinde schöne Geschenke machten, war auch ein armer kleiner Hirtenjunge da, der gar nichts hatte. Und weil er nicht mit leeren Händen kommen wollte, pflückte er eine ganz weiße Gänseblume und näherte sie den Lippen des Kindes. Dieses küßte das Blümchen, und an den Blatträndern, wo seine Lippen sich aufgedrückt hatten, wurde es rosafarben.


  • Literatur: Aus der Côte d'Or. Sébillot, Folklore 3, 446.

b) Das Jesuskind war im Stall zwischen Ochs und Esel auf Heu gebettet. Maria wachte bei der Krippe. Joseph hatte die Hände gefaltet und betete das Kind an. Der Ochs brüllte: »Muh, Muh, welch großer Tag!« und der Esel: »Wie schön das Kind ist, Ih ah!«

Die Nacht kam. Draußen stürmte es, schneite und fror. Drinnen war alles voll Glanz. Die drei Könige von Saba kamen herein, mit Samt und Seide bekleidet, mit Edelsteinen geschmückt, Balthasar brachte Gold, Melchior Myrrhen und Kaspar Weihrauch.

Von der andern Seite kamen die Hirten. Pellion brachte Pfeifen, Ysambert einen Holzkalender, nach dem man die Tage und Monate wissen konnte. Aloris brachte eine Kinderklapper, die machte klipp, klapp, die sollte das Kind beruhigen, wenn es weinte.

Hinter den Hirten stand furchtsam, neugierig und entzückt auf den Zehenspitzen ein Mädchen mit blauen Augen, die kleine Hirtin Magdalene. Wie liebte sie das Jesuskind, wie gerne hätte sie es geherzt und welch große Geschenke ihm bringen mögen! Aber sie hatte ja nichts, die Arme. Ihre rissigen Hände sind leer. Untröstlich über ihre Armut fängt sie an zu weinen.

Als der Engel Gabriel sie so voll Schmerz sieht, steigt er vom Himmel herunter zu ihr.

»Kleine Hirtin, was willst du?«

»Ach, ich weiß nicht.«

»Warum weinst du denn so?«

»Ich möchte dem Jesuskind etwas geben, aber ich habe nichts.«

»Was möchtest du ihm denn geben?«

»Ach, die Hirten und die Könige haben ihm schon alles gebracht.«

»Haben sie denn nichts vergessen? Denke einmal nach!«

»Ja, wenn ich ihm Rosen geben könnte! Der liebe Kleine hat nicht eine einzige Blume bekommen. Aber es friert, und der Frühling ist noch weit.«

Da nahm der Engel Gabriel Magdalene bei der Hand. Sie gingen hinaus, und Helligkeit schien um sie her. Der Engel schlug die Erde mit seinem Stab, und die Erde bedeckte sich mit niedlichen kleinen Blumen, zarten und köstlichen wilden Rosen. Die kleine Hirtin Magdalene konnte nun das Jesuskind umarmen. Weihnachten hatte nun seine Rosen. So ist uns die Geschichte der Weihnachtsrosen überliefert.


  • Literatur: La Tradition 2, 355 und 6, 345.

VII. Ein Beispiel mittelalterlicher Predigtweise.

Das Weihnachtsevangelium, das durch den legendarischen Aufputz eine sehr plastische Anschaulichkeit erhielt, mußte dem naiven Empfinden des[21] Volkes wie ein Stück eigenen Lebens erscheinen, insofern die fernen Wunderereignisse in die nächste Nähe gerückt und wie mit Händen zu greifen waren. Wie sehr solche Legenden dem Herzensbedürfnis des Volkes entsprachen, beweist schon ihre, Mannigfaltigkeit. Auch die Predigten des Mittelalters haben die dankbare Kunst legendarischer Ausschmückung verwendet, um ihren Eindruck zu steigern. Ein Zeugnis, wie die Weihnachtspredigt eines ungelehrten Dompfaffen aussah, gibt Jakob Frey, Gartengesellschaft Kap. 117 (Bolte S. 133). Darin heißt es:


Maria, die můter gots, ... ist am kalten gelegen in eim stall, hat grob rindtfleisch in růben gekocht gessen. Und hat Joseph das kindlin in kein wiegen, sundern in ein kripff gelegt, mitt hew und stro zůgedeckt, das ihm der frost nit geschadt, in allte hosen ingewicklet und gebunden unnd darnach ihme ein gůten dicken schwäbischen haberbrey gekocht; damit hatt er das kind ufferzogen bitz in sein alter, davon es auch gewachsen unnd ein starcker man worden. (Dies empfiehlt der Prediger seinen Hörern: »gebet [den Kindern] gůte beppe, mit der besten milch gekocht, zů essen.«)

Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 20-22.
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