2. Kapitel.

Christi Geburt.

[8] »Die selige Weihnachtszeit mit ihren heiligen Mythen ist eine Blume mitten im Winter des Jahres. Oder weiß einer von Euch Frommen und Profanen im Himmel und auf Erden Schöneres zu denken als eine junge, keusche Mutter mit ihrem Kinde? Als ein Kind, das mit dem fleischgewordenen Worte: ›Tue Gutes denen, die dich hassen; liebe deinen Nächsten wie dich selbst‹ die Welt erlösen will?« So hat Rosegger einmal gesagt.

Diese heilige Schönheit der Weihnachtserzählung hat in der ganzen Sagenpoesie der Welt nirgends ihresgleichen. Die Natursagen, die sich an das Evangelium anknüpfen, bleiben weit hinter ihr zurück. Sie geben nicht viel mehr als matte Erweiterungen nebensächlicher Vorgänge, aber sie sind immerhin wertvolle Zeugnisse für die Geschichte des Glaubens. Sie zeigen, wie nachdenklich das Volk mit Herz und Geist bei dem Wunder der Christnacht verweilte, wie es die Heiligkeit der Personen und Vorgänge sich näher zu bringen und in die leichter faßliche Menschlichkeit herabzuziehen suchte, und wie es befriedigt ward durch die Vorstellung, daß die Natur in so manchen Gedenkzeichen die Erinnerung an Christi Geburt bis heut und in Ewigkeit bewahre.

Schon die an sich bedeutungslose Reise um der Schätzung willen beschäftigte die Volksphantasie. In apokryphen Darstellungen der Jugendgeschichte Jesu (z.B. bei Schade, Narrationes cap. XII, S. 11) wird erzählt, daß Joseph, als er von Nazareth nach Bethlehem kam, einen Ochsen und einen Esel mit sich führte. Auf dem Esel saß die heilige Jungfrau; den Ochsen wollte er gegebenenfalls verkaufen, um Mittel zum Unterhalt zu gewinnen.1 (Vgl. auch Jakobus-Evangelium cap. 17, Tischendorf2 S. 32,[8] Hennecke, neutestamentliche Apokryphen S. 60: Reise nach Bethlehem auf einem Esel. Weiteres siehe unter »Fluchtsagen«.)

Die sizilianische Volkslegende knüpft daran an, erweitert den Stoff und erzählt: Die Mauleselin ist verflucht worden [unfruchtbar zu bleiben]. Denn als Maria, um sich nach dem Gebote des Kaisers Augustus zählen zu lassen, eine solche bestiegen hatte, warf diese sie zu Boden. Maria bestieg danach einen Esel.


  • Literatur: Pitrè, Usi e cost. Sic. 3, 435.

Aber im Mittelpunkt der Sagendichtung stand natürlich die Geburtsgeschichte.

Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 8-9.
Lizenz:
Kategorien: