I. Die Dattelpalme.

[9] Selbst für die Araber hat die Geburt dessen, den sie geringschätzig einen Vorläufer-Propheten Mahomets nannten, etwas Rührendes gehabt.

Im Koran, Sure 19, 23 ff. wird erzählt:


Einst befielen Maria die Wehen der Geburt an dem Stamme eines Palmbaumes, da sagte sie: »O wäre ich doch längst gestorben und ganz vergessen!« Da rief eine Stimme unter ihr: »Sei nicht betrübt, schon hat dein Herr zu deinen Füßen ein Bächlein fließen lassen, und schüttele nur an dem Stamme des Palmbaumes: es werden reife Datteln genug auf dich herabfallen. Iß und trinke und erheitere dein Auge.«


  • Literatur: Vgl. Tabarî 1, 541 (auch Hammer, Rosenöl S. 259 f.):

Maria begab sich, als die Stunde der Geburt herannahte, aus Schamgefühl vor die Stadt. Als die Wehen sie befielen, bemerkte sie von ferne einen Baum. Es war eine verdorrte Palme, deren Blätter abgefallen und deren Zweige gebrochen waren. Maria wandte sich zu diesem Baum, ihre Schmerzen erlaubten ihr nicht, weiter zu gehen. Sie setzte sich unter den Baum, wie im Koran geschrieben steht: die Geburtsschmerzen überfielen sie unter einem Palmbaume. Als sie niedergekommen war und Jesus das Leben geschenkt hatte, ließen die Schmerzen und die Scham sie in diese Worte ausbrechen: »Wollte Gott, ich wäre vordem gestorben und völlig vergessen!« ... Als Jesus unter diesem Baumstamme das Licht erblickt hatte, gab es dort weder Quell noch Bach. Gott ließ an jenem Orte eine Quelle sprudeln, und das Wasser floß über den Boden, damit Maria sich damit waschen könne, sie und ihr Kind. Darauf sprach die Stimme zu ihr: »Schüttle den Palmstamm, die reifen Datteln werden auf dich herunterfallen.« Maria schüttelte den Baum, und augenblicklich wuchsen Datteln, reiften und fielen ab. Sie aß davon, und ihr Körper gewann wieder Kraft. Seitdem gibt man Wöchnerinnen Datteln.

Der Araber Kessaeus (vgl. Henr. Sike in den Noten zum Evang. inf. p. 19) erzählt: [Maria ging an einen einsamen Ort außerhalb Jerusalems.] Und sie sah in einer stürmischen Nacht eine verdorrte Palme, und als sich Maria an deren[9] Wurzel niedergelassen hatte, ward diese plötzlich wieder grün und mit Blättern und Laub bekleidet und senkte ihre Frucht zu ihr herab durch die Kraft Gottes des Herrn. Und unter ihr hervor sandte Gott einen sprudelnden Quell, und als die Geburtswehen sie quälten, umschlang sie die Palme fest mit ihrer Hand.

Sike erinnert hierbei an die Sage der Latona, die nach Homeri hymnus in Apoll. und Callimachus, hymn. in Delum eine Palme umschlingt.


Diese literarischen Darstellungen gaben den Anlaß zu der folgenden mit Naturdeutung ausgeschmückten Sage:


Die Jungfrau Maria zog sich in der Wüste unter eine Dattelpalme zurück; von den Geburtsschmerzen überrascht, weinte sie, als der Engel des Herrn zu ihr sprach: »Bekümmere dich nicht, Maria, schüttle den Baum, iß die Frucht, trink und wasch deine Augen.« In ihrer Angst rief sie aus: »O könnte ich nur eine Dattel haben!« Alsbald grub sich der Ausruf ihres jungfräulichen Mundes in die Frucht ein, und alle tragen seitdem ein kreisrundes Zeichen ähnlich dem Buchstaben O.


  • Literatur: Revue des trad. pop. 4, 409 aus Jaksonet, l'Univ. pitt. Maroc. p. 294 f.

Auch zu den Portugiesen und nach Malta ist diese Sage gewandert, jedoch mit der Änderung, daß Maria auf der Flucht nach Ägypten beim Anblick der Datteln ausgerufen habe: »O welch schöne Frucht!« (Über die Dattelpalme in Fluchtsagen s. unten Kap. 3.)

Buddhistische Parallelen, denen die arabische Geschichte vermutlich nachgebildet ist:


1. Königin Mâya, die Buddhas Mutter werden soll, ist schwanger und geht in den Garten.

Nun war in diesem Garten ein besonderer Baum, Palasa genannt, der war von oben bis unten ganz gerade, und seine Zweige standen vollkommen regelmäßig, seine Blätter schillerten wie das Gefieder des Pfaues, weich wie »Kalinda«-Tuch, der Geruch seiner Blüten war wunderbar. Entzückt über diesen Anblick blieb Mâya dort eine Zeitlang stehen, um ihn zu bewundern, und näherte sich allmählich seinem Schatten, da neigte dieser Baum seine Zweige durch Buddhas Wunderkraft, und die Königin ergriff einen Zweig mit ihrer rechten Hand ... So gebiert sie Buddha.


  • Literatur: Aus einem chinesischen ›Leben Buddhas‹ vom Ende des 6. Jahrh. n. Chr.
    Beal, Sâkya Buddha 43.

2. Nun befindet sich dort ... ein herrlicher Sālawald ... Als nun die Fürstin (die zukünftige Mutter des Bodhisatta) diesen Sālawald sah, bekam sie Lust, sich darin zu ergehen. Die Diener nahmen die Königin und betraten den Sālawald. Sie ging dann an den Fuß eines herrlichen Sālabaumes und begehrte einen Sālazweig zu erfassen. Der Sālazweig bog sich herab wie die Spitze eines dampfdurchnäßten Rohres und kam ihrer Hand nahe. Und sie streckte die Hand aus und erfaßte den Zweig. Und nun begannen die Wehen. Viele Leute kamen herbei und verfertigten ein Zelt um sie. Und während sie so den Sālazweig haltend dastand, gebar sie ihr Kind.


  • Literatur: Dutoit, Leben des Buddha S. 9 f.

3. Indische Erzählungen von Bäumen, die sich neigen, s. auch unter Fluchtsagen, unten Kap. 3.[10]

Zur Anteilnahme der Natur während der Stunde der Geburt vgl. noch das Protevangelium des Jüngern Jakobus Kap. 18, Tischendorf2 S. 34 (Nach der Übersetzung von R. Clemens S. 42 und Eysinga S. 66):


Da aber Joseph hinging [eine Wehemutter zu suchen], sah er zum Himmel hinauf und sah den Pol des Himmels stehen und die Vögel des Himmels zittern. Und er blickte zur Erde nieder und sah eine Schüssel daliegen und Arbeiter dabeisitzen, die ihre Hände in der Schüssel hatten. Und diejenigen, welche kauten, kauten nicht; welche etwas herausholten, holten nichts heraus; welche Speise in den Mund führten, führten sie nicht in den Mund, sondern ihrer aller Angesicht war nach oben gewandt. Weitergetriebene Schafe standen still; und der Hirte erhob die Hand, sie mit dem Stabe zu schlagen, aber die Hand desselben blieb in der Luft stehen. Und Joseph blickte nach dem Strome und sah Böcke, die mit ihrem Munde das Wasser berührten und nicht tranken. Und alles stand in seinem Laufe still.


Wie die evangelische Sage den Tod des Messias dadurch verherrlichte, daß sie dabei die ganze Natur in Aufregung geraten läßt (Matth. 27, 25), so lag es nahe, auch an der Geburt des göttlichen Kindes die ganze Schöpfung Anteil nehmen zu lassen. Dort trauert, hier staunt die Natur. Vgl. auch Eysinga, Indische Einflüsse S. 66, wo auf eine merkwürdige Übereinstimmung mit dem Lalita-Vistara (6. Jahrh. n. Chr.), aus dem Tibetanischen übers. von Foucaux, Kap. 7, S. 73 f. hingewiesen wird:


La lune, le soleil, les chars célestes, les planètes, la foule des étoiles restaient sans mouvement.

Toutes les fleurs, entr'ouvrant leurs calices, ne s'épanouissaient pas. Dans les étangs, les lotus .... entr'ouvrant leurs boutons, ne fleurissaient pas. De jeunes arbres ..... entr'ouvant leurs boutons, ne fleurissaient pas ... Tous les vents apaisés ne soufflaient pas. Toutes les rivières et les ruisseaux arrêtés ne coulaient pas ... Tous les travaux des hommes étaient interrompus.


»Das 18. Kap. des Protev. Jacobi«, sagt Eysinga, »versetzt uns in eine orientalische Märchenwelt, wo ein lebendiges Naturschauspiel, plötzlich bezaubert, in dem darauf eintretenden Ruhestand noch eine Welt der Bewegung ahnen läßt. Diese Darstellung scheint mir indischen Ursprungs zu sein.«

Vgl. noch folgende buddhistische Parallelen:


1) In dem Augenblicke, da der Bodhisatta im Leibe seiner Mutter seine. Wiedergeburt nahm, erzitterten und erbebten wie mit einem Schlage alle 10000 Welten. Es neigten sich die 32 Vorzeichen: In den 10000 Welten entstand eine unermeßliche Helle; die Blinden, die diesen Glanz zu schauen verlangten, erhielten ihre Augen wieder, die Tauben hörten, die Stummen redeten, die Buckeligen wurden gerade, die Lahmen konnten wieder gehen, alle, die in Banden waren, wurden von Ketten, Banden u. dergl. befreit. In allen Höllen erlosch das Feuer, bei den Petas hörte Hunger und Durst auf, die Tiere verloren ihre Furcht, bei allen Wesen verschwand die Krankheit, alle Wesen redeten lieb, mit lieblichem Laute wieherten die Pferde, brüllten die Elefanten; alle Instrumente ertönten, wiewohl nicht berührt, von selbst, Armbänder und andere Schmucksachen an den Körpern der Menschen klingelten. Alle Himmelsgegenden wurden heiter, ein den Geschöpfen wohltuender milder,[11] kühler Wind wehte, eine Wolke ließ Regen herabströmen, obwohl es nicht Regenzeit war; auch aus der Erde sprang Wasser hervor und floß dahin. Die Vögel hörten auf, in der Luft zu fliegen, die Flüsse hemmten ihren Lauf, in dem großen Weltenmeere war süßes Wasser, überall war seine Oberfläche mit fünffarbigen Lotosblumen bedeckt. Alle Land- und Wasserblumen blühten, an den Stämmen der Bäume blühten Stammlotosblumen, an den Ästen Astlotosblumen, an den Zweigen Zweiglotosblumen. Aus dem Boden kamen Baumlotosblumen, die die Felsen durchbrachen, je sieben übereinander hervor, vom Himmel hingen Schlinglotosblumen herab, überall regnete es Blumen. Im Äther ertönten himmliche Instrumente, und das ganze System der 10000 Welten drehte sich und war wie ein Ball ausgestreuter Blumen zusammengedrückt, wie ein Bündel zusammengebundener Kränze; es war wie ein mit Kränzen geschmückter Sitz, wie aus einem einzigen Kranz bestehend, wie ein Yak-Wedel funkelnd, mit dem Wohlgeruch von Blumen und Weihrauch parfümiert zu äußerster Herrlichkeit gelangt.


  • Literatur: Dutoit, Leben des Buddha S. 7 f.

2) Nachdem Buddha geboren war, erbebte die Erde, Sonne und Mond verfinsterten sich, alles blüht, der Himmel ist heiter, aber es donnert, ein leiser fruchtbarer Regen fällt, ein sanft kühlender Wind weht.


  • Literatur: Aus einem chinesischen Leben Buddhas.
    Beal, Sâkya Buddha 45 f.

An die Hauptgedanken des arabischen Berichtes, die Erquickung unterm Dattelbaum und am Quell, erinnert folgende jüdische Geschichte:


Rabbi Nachaman war sehr reich und gelehrt und weise. Dennoch bat er seinen Freund, Rabbi Isaac, daß er ihm seinen Segen gebe.

»Du erinnerst mich da,« sprach dieser, »an einen Mann, der beinahe den ganzen Tag in einer Wüste herumgewandelt und nun hungrig, durstig und müde war.« Dennoch trieb ihn die Notwendigkeit, weiter zu gehen, bis er endlich an den bezauberndsten Ort kam, wo ein feiner Dattelbaum wuchs und ein kleiner Bach rieselte. Der ermüdete Fremdling setzte sich unter den Baum und pflückte einige köstliche Früchte desselben und erquickte sich. Dankbar aber für die unerwartete Erfrischung, wendete er sich an seinen Wohltäter: »Baum, Baum, welchen Segen kann ich dir geben? Soll ich dir große Zweige, schöne Blätter, kühlenden Schatten wünschen? Du hast sie bereits. Ausgesuchte Früchte im Überfluß? Du bist mit ihnen bereits gesegnet. Einen belebenden Bach, der deine Wurzeln befruchtet? Auch er mangelt dir nicht. Nichts kann ich dir wünschen, als daß jeder deiner Sprößlinge, wohin er gepflanzt werde, blühen mag, gleich dir. – Und dir, mein Freund, welchen Segen kann ich dir geben? Gelehrt und weise bist du bereits. Reichtum hast du in Überfluß. Deiner Kinder sind viele. So kann ich nur wünschen, daß alle deine Nachkommen gesegnet seien, gleich dir selbst.«


  • Literatur: Heimann Hurwitz, Sagen der Hebräer. Aus den Schriften der alten hebräischen Weisen 1826, S. 68.

Fußnoten

1 Vgl. Jacobus a Voragine († 1298), legenda aurea ed. Graesse S. 45: Proficiscens Joseph in Bethlehem cum Maria praegnante duxit secum bovem, forte ut ipsum venderet et censum pro se et pro virgine solveret et de residuo viveret, et unum asinum, forte ut virgo super eum veheretur. Ferner Vita Beate Virg. Marie.. rhythmica ed. Vögtlin – es ist dies ein Werk, das zahlreiche Nachahmungen und Bearbeitungen in allen Ländern Europas erfuhr – v. 1724 f. Ipse (sc. Ioseph) secum asinum bovemque ducebat, virgo nam in asino gravida sedebat. Vendere disposuit aliud iumentum ad habendum in expensas et eius alimentum.


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 12.
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