F. Erweiterung.

[118] Diese Sage wird am Schluß weiter ausgesponnen. Während der Schäfer Wasser holt, hütet Jesus (oder Gott) die Herde, der Wolf überfällt sie, und der göttliche Hirte erschafft den Wächterhund. Die Hauptzüge, die mit den vorigen Varianten übereinstimmen, sind im folgenden gesperrt gedruckt, die Erweiterung kursiv.


21. Aromunische Sagen.


a) Der durstige Christus bat einen faulen Kuhhirten um Wasser; der aber wies unwillig mit dem Fuße nach einer Quelle und sagte zu Christus, er solle sich das Wasser selbst holen. Christus ging weiter und bat einen Schafhirten um dasselbe. Dieser ging zur Quelle, nachdem Christus versprochen, die Herde unterdessen zu bewachen. Da kam plötzlich der Wolf und fiel über ein Schaf her. Christus aber nahm einen Stein und warf nach ihm; aus diesem Stein entstand der Hund, vor dem der Wolf die Flucht ergriff. Als der Hirt wiederkam, zeigte ihm Christus den Hund und sagte: »Dies sei mein Geschenk; der Hund wird dir Tag und Nacht deine Schafe behüten.« Seitdem ist der Hund immer mit dem Schäfer zusammen.

Den Kuhhirten aber traf der Fluch, niemals Hunde bei den Kühen zu haben. Wenn der Wolf kommt, so sammeln sich die Kühe im Kreise und wehren den Feind mit den Hörnern ab.


  • Literatur: Lumina, Revistă poporana a Aromînilor 3 (1905), Nr. 1.

b) Variante.


Durstig traf Gott einst, als er auf Erden wanderte, einen Hirten, den er um Wasser bat. Dieser ging zur Quelle, während Gott seine Schafe hütete. Da kam aber der Wolf und wollte sich ein Schaf holen, denn es bestand zwischen Hirten und Wolf ein Vertrag, demzufolge der Wolf täglich ein Schaf erhielt und dafür im übrigen die Herde in Ruhe ließ. Gott wollte nun dem Wolf nicht das geben, was er wünschte, sondern erhob den geforderten Widder, warf ihn gegen den Wolf und verwandelte ihn in den Hund, der den Wolf wacker angriff und in die Flucht trieb. Seitdem sind die Hunde Begleiter der Herde.


  • Literatur: Papahagi, lit. pop. a Aromînilor S. 811.

22. Aus Ungarn.


Als unser Herr Christus auf Erden wandelte, dürstete ihn einmal sehr; er trat beim Rinderhirten ein; der Hirt lag faul hingestreckt – er konnte faulenzen, denn damals rastete das Bind noch mittags. Unser Herr Christus bat[118] ihn um ein bißchen Wasser. »Das kann ich dir nicht geben, denn weit ist der Brunnen!« Dabei hob er das Bein in die Höhe und wies damit: »Dort ist der Brunnen

Unser Herr Christus ging nicht zum Brunnen, er ging zum Schäfer, bat ihn um ein bißchen Wasser. Sprach der Schäfer: »Ich kann es dir nicht geben, denn meine ganze Herde läuft sonst auseinander! Siehst du nicht, wie sie hin und her laufen, um die Fliegen zu vertreiben?« »Geh nur, deine Schafe werden schon alle zusammen in einem Haufen rasten!« Der Schäfer holte Wasser, unser Herr Christus trank. Als er getrunken hatte, liefen alle Rinder des Rinderhirten auseinander, um die Fliegen zu vertreiben.

Gegen Abend ging unser Herr Christus wieder zum Schäfer, bat ihn um Wasser. »Ich kann dir's nicht geben; denn meine Schafe alle treibt sonst der Wolf zusammen!« »Fürchte nichts, geh nur und hole Wasser!« Der Schäfer ging nach dem Wasser, da kamen die Wölfe. Der Schäfer hatte zwei Pferdeköpfe dort – damals war das Pferd noch des Schäfers Esel –, unser Herr Christus stieß die beiden Pferdeköpfe zusammen, da verwandelten sich die zwei Pferdeköpfe zu Bulldoggen; die Wölfe liefen davon. Seitdem gibt es Bulldoggen.


  • Literatur: Kálmány, Széged Népe. 3, 171.

23. Bulgarische Sagen.


a) Einst waren die Schafe scheu und die Ochsen zahm. Ging da einmal Gott aus, um zu schauen, was der Schafhirt machte. Er ging also zu ihm, und der Arme lief eben mit einem gebrochenen Beine und einem bloßen Fuße herum, um die Schafe zusammenzutreiben, damit sie sich nicht verliefen. Er hatte nicht einmal Zeit, sich niederzusetzen und sich die Füße zu umwickeln. Der alte Gott sprach zu ihm: »Mein Kind, ich bin sehr durstig; willst du mir ein wenig Wasser bringen, damit ich trinke? Du weißt, wo sich der Brunnen befindet.« »Ich bringe dir, Alter,« versetzte der Schafhirte, »doch die Schafe sind scheu, und ich kann sie nicht allein lassen. Wie du siehst, habe ich nicht einmal so viel Zeit, mir die Füße zu bekleiden und muß ihnen barfüßig nachlaufen.« »Gehe nur, ich werde sie bewachen, damit sie nicht davonlaufen; bringe mir Wasser!« sagte Gott und ging dann, um die Schafe zusammenzutreiben. Der Hirte lief sofort von dannen und brachte Wasser. Der alte Gott trank und segnete den Schafhirten, indem er sagte: »Kind, weil du mir gefolgt hast, soll dir Gott geben, daß dir die Schafe nicht mehr scheu werden, damit du dich setzen und dir die Schuhe anziehen kannst.« Von dieser Zeit an sind die Schafe nicht mehr scheu, und ihr Hirte kann sich setzen, wenn er müde ist. – Gott ging nun zum Ochsenhirten. Dort lagen die Ochsen still, und der Hirte hatte sich bloßfüßig zum Schlafe hingelegt. Der alte Gott bat ihn: »Geh, mein Kind, und bringe mir etwas Wasser, ich bin sehr durstig.« Der Ochsenhirte versetzte: »Kannst du nicht selber gehen und am Brunnen trinken? Ich soll bloßfüßig aufstehen und dir Wasser holen?« Da verdammte ihn Gott, indem er sagte: »Von nun an sollst du barfuß den Ochsen nachlaufen und keine Zeit haben, dich zu setzen und dir die Schuhe anzuziehen.« Sogleich wurden die Ochsen scheu und liefen hin und her; und er lief ihnen barfuß nach, um sie zusammenzutreiben. Von dieser Zeit an sind die Schafe zahm, die Ochsen aber scheu.


  • Literatur: Strausz, Die Bulgaren, S. 67.

b) Früher, da Gott noch auf Erden wandelte, rasteten die Rinder in der Mittagshitze, die Schafe aber liefen hin und her. Einst kam Gott zu Fuße daher, und da[119] es gar heiß war, wurde er müde und durstig. In der Nähe des Weges lag ein Rinderhirte auf dem Rücken, während die Rinder im Schatten ruhten. Gott bat den Hirten um Wasser, damit er seinen Durst lösche; aber der Hirte erhob sich nicht einmal vom Boden, um ihm die Quelle zu zeigen, sondern blieb liegen, streckte sein Bein gegen die Quelle aus und sprach: »Dort ist die Quelle; gehe hin, wenn du trinken willst!« Gott ging weiter und traf einen Schäfer an, der barhaupt seine herumlaufenden Schafe zusammentreiben wollte. Gott trat an ihn heran und sprach: »Guten Tag, mein Sohn!« »Geb dir auch Gott, Alter!« versetzte der Schäfer. »Hast du Wasser, damit ich Alter trinken kann?« fragte Gott. »Nein, es ist mir ausgegangen, Alter,« antwortete der Schäfer. »Ich möchte auch gerne trinken, aber ich kann meine Schafe nicht hier lassen, um Wasser zu holen.« Gott sprach: »Geh nur, mein Sohn, geh! Ich werde die Schafe hüten.« Der Schäfer ging, um Wasser zu holen, Gott aber nahm seine Mütze ab und segnete die Schafe; diese sammelten sich nun in dem Schatten der Mütze Gottes, die Rinder aber liefen auseinander, und der Rinderhirte mußte barhaupt aufspringen und ihnen nachlaufen, um sie zusammenzutreiben, was ihm aber nicht einmal so weit gelang, daß sie haufenweis im Schatten rasteten. Zu dieser Zeit segnete Gott die Schäfer, und die Schafe begannen zu Mittag zusammen zu rasten, die Rinder aber sich zu zerstreuen, damit ihr Hirte seine Mühe habe.

Ein andermal nahm Gott die Gestalt eines sehr alten Mannes an und ging zum Schäfer, um zu erfahren, ob dieser sich noch an das Gute, das Gott ihm angetan, erinnere oder nicht, und er redete ihn also an: »Guten Tag, mein Sohn!« Jener versetzte: »Geb dir Gott, Alter!« »Hast du etwas Wasser, um den Durst des Alten zu löschen?« fragte Gott. »Nein, Alter,« antwortete der Schäfer, »aber warte nur, ich werde es holen; die Quelle ist hier zwar weit, und heute ist die Reihe an mir, den Wolf zu bewirten.« Bis zu der Zeit nämlich konnten die Schäfer den Wolf nicht fernhalten und mußten ihm eine Abgabe liefern, der Reihe nach je eins der besten Lämmer, oder welches sich der Wolf eben auswählte. Gott sprach: »Schon gut, mein Sohn, schon gut; sag mir nur, welches Lamm ich ihm geben soll. Du aber hole Wasser.« Der Schäfer zeigte ihm das beste, fetteste Lamm und ging dann, um Wasser zu holen. Der Wolf kam, um das Lamm wegzutragen, aber Gott gab ihm nicht das fetteste, sondern ein häßliches, mageres, schmutziges. Der Wolf erzürnte und wollte das fetteste Lamm ergreifen; da versetzte ihm Gott mit seinem Stabe einen Schlag auf den Rüchen und brach ihm zwei Rippen aus, aus welchen zwei Hunde entstanden, ein Männchen und ein Weibchen, die er auf den Wolf hetzte. Dieser erschrak und lief ohne Beute davon. Als der Schäfer mit dem Wasser zurückkehrte, sprach Gott zu ihm: »Mein Sohn, von nun an gebet dem Wolfe nichts, sondern hetzt ihn mit Hunden weg, die von diesen beiden da erzeugt werden.« Von dieser Zeit an ward der Wolf feige und kann mit Hunden fortgehetzt werden.


  • Literatur: Strausz, S. 68.

24. Slawische Sage.


Als Gott auf der Erde wandelte und sie segnete, ging er zuerst zu einem Viehhirten. Der lag auf dem Rücken unter einem Birnbaum; sein Krug, worin er sich Wasser holte, stand leer daneben. Gott, in Gestalt eines alten Mannes, fragte ihn: »Mein Sohn, ist da etwas Wasser im Krug?« Der Hirt sagte: »Nein.« Gott sagte zu ihm: »Geh, mein Sohn, mir etwas Wasser zu holen, daß der alte Mann trinken kann.« Der Hirte machte ihm mit dem Fuße ein[120] Zeichen: »Da ist der Quell, wenn du durstig bist, geh hin und trinke.« Da ließ der Herr die ganze Herde davonlaufen, als ob sie von der Bremse gejagt wären. Und als sie nun alle in einer Richtung zu laufen begannen, nahm der Hirt seinen Hut in die Hand und stand auf, und als er hinter ihnen her rannte, dachte er: »Wie hab ich gegen Gott gesündigt!«

Darauf kam Gott zu einem Schäfer. Auch dieser hatte einen Krug, und Gott fragte ihn: »Mein Sohn, hast du etwas Wasser?« Er antwortete: »Da ist Wasser, Alter, aber ich kann nicht selbst gehen, es zu holen, oder die Schafe werden sich zerstreuen.« Da sagte Gott: »Geh hin, mein Sohn, ich will sie hüten.«

Als der Schäfer zum Wasser ging, nahm Gott den Hirtenstab, und nachdem er ihn in den Erdboden gesteckt hatte, legte er den Hirtenmantel darauf und segnete die Schafe. Sie wurden ruhig und blieben still im Schatten. Während der Abwesenheit des Schäfers kam ein Wolf, um den ausgemachten Tribut, den er täglich vorn Schäfer erhielt, in Empfang zu nehmen.

Gott gab ihm ein Lamm von geringem Wert, aber der Wolf war unzufrieden und nahm es nicht, sondern stürzte sich auf ein anderes, das ihm gefiel. Da nahm Gott des Schäfers Horn und schlug ihn auf die Lenden und auf das Rückgrat. Daher stammt die Eigentümlichkeit des Wolfs, daß seine Lenden gerade so weich sind, wie sein Nacken fest ist. Aber er trug das Lamm fort, das er ergriffen hatte. Da nahm Gott zwei kleine Steine, warf sie hinter dem Wolf her und segnete sie. Da wurden sie zu Hunden, rannten dem Wolf nach und nahmen ihm das Lamm weg.

Als der Schäfer mit kaltem Wasser herankam, sah er die Schafe ruhig, denn sie standen im Schatten, und die zwei Hunde spielten um sie herum.

Da fragte der Schäfer den alten Mann: »Ei, Alter, wenn die Schafe da so ruhig wie Holzklötze stehen, wie soll ich sie dann zur Weide treiben?« Gott sagte zu ihm: »Mein Sohn, nimm ein Kupferhorn und blas ihnen darauf, dann werden sie sich nach der Richtung erheben, von der der Windhauch weht.«

Seitdem werden die Schafe mit Hornruf zur Weide getrieben.


  • Literatur: Wratislaw, Sixty Folktales, S. 176.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 118-121.
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