I. Die Art der Bewegung.

[219] Gleich dem Aufenthalt der Tiere fesseln auch andere Einzelheiten der tierischen Lebensweise den menschlichen Beobachter. Wir mustern im folgenden eine ganze Reihe verschiedener Wahrnehmungen und Deutungen und lassen dann einige besondere Motivgruppen in eigenen Kapiteln zusammengefaßt folgen.


1. Aus Japan.


Alle Geschöpfe auf der Erde, alles, was aufrecht geht, was läuft oder fliegt oder kriecht oder schwimmt, alles bewegt sich nach vorn, weil die Augen nach vorn gerichtet sind. Nur der Taschenkrebs bewegt sich nach der Seite.

Woher das aber kommt, will ich euch erzählen.

Es war einmal in uralter Zeit eine Meeresgöttin, die Liugu hieß. Sie wohnte unten auf dem Grunde in einem wundervollen, prächtigen Palaste und herrschte über alle Fische ihres ungeheuren Seiches. Da wollte sie einmal ein großes Fest feiern, und alle Fische waren dazu eingeladen. Sie zogen sich die schönsten Gewänder an, um vor ihrer Königin würdig zu erscheinen, und als sie vor die Königin kamen, machten sie ihre tiefsten Verbeugungen. Der Tai, der vorzüglichste aller Fische, trat zuerst hervor und bedankte sich für die ehrenvolle Einladung; und dann stellten sich die anderen Seetiere vor, darunter auch der Taschenkrebs. Die Königin war sehr erfreut, hieß alle Gäste freundlich willkommen und sprach:[219] »Heute ist mein Geburtstag, und deshalb habe ich euch alle eingeladen. Zwar habe ich euch nichts Besonderes vorzusetzen, aber ich hoffe, es wird euch doch schmecken, und ihr werdet recht vergnügt sein.« Dann setzten sich alle zu Tische, und zahlreiche Dienerinnen brachten allerlei auserlesene Speisen und Getränke. Die Königin forderte ihre Gäste auf, tüchtig zuzulangen, und alle bedankten sich und taten sich gütlich an dem ausgezeichneten Mahle.

Der Taschenkrebs saß zwischen den Seetieren Oktopus und Tai. Aber während diese, gleich den übrigen, immer nur von ihren eigenen Tellern aßen, langte der Krebs mit seinen Scheren bald nach rechts, bald nach links, um sich sein eigenes Essen bis zuletzt aufzusparen. Da rief die Königin drohend: »Taschenkrebs!« Bei diesem Ausruf erschrak der Krebs und zuckte ängstlich zusammen. »Wie ich sehe«, fuhr die Königin fort, »ißt du nicht von deinem eigenen Teller, sondern von denen der Nachbarn, bald rechts, bald links. Warum tust du das? Wenn du so ungezogen, sein willst, kannst du vom Tische weggehen.«

Da bat der Taschenkrebs um Verzeihung und versicherte, daß er es nicht mehr tun wolle. Er fing nun an von seinem Teller zu essen, aber bald langte er wiederum auf die seiner Nachbarn. Da sprach die Königin: »Hast du dein Versprechen schon vergessen? Warum machst du das wieder?« Und zum zweiten Male bat der Krebs um Verzeihung und beteuerte noch viel stärker, daß er es nicht wieder tun wolle. Da wurde die Königin sehr ärgerlich und fragte: »Wie oft willst du mich noch um Verzeihung bitten? Ich will jetzt wissen, warum du so ungezogen bist.« Der Taschenkrebs erwiderte: »Meine Hände sind nach den Seiten gerichtet. Deshalb habe ich von den Nachbarn gegessen, während ich von meinem Teller essen wollte.« Da befahl die Königin, er solle seine vollen Teller mit den Nachbarn wechseln. Das wollte er aber aus Habgier nicht tun, denn die anderen Teller waren beinahe leer. Lieber wollte er noch zum dritten Male schwören. Da rief die Königin ganz zornig: »Du brauchst nicht mehr vergeblich zu schwören. Ich weiß, daß du ein Nimmersatt bist. Zur Strafe für deine Habgier sollst du fortan nur nach der Seite gehen, und nie darfst du mir wieder unter die Augen kommen.« Da wurde der Taschenkrebs aus dem Palaste gestoßen und für immer verbannt. Seitdem geht und ißt er nur noch nach der Seite.


  • Literatur: Globus Bd. 72.

2. Aus den Philippinen (Sage der Visayan).


Eines Tages hatten die Landkrebse (land crabs) eine Versammlung. Einer unter ihnen fragte: »Was wollen wir mit den Wellen machen? Sie singen immer so laut, daß wir unmöglich des Nachts gut schlafen können.« »Meint ihr nicht, daß es gut wäre, wenn wir Männer hingingen und sie bekriegten?« fragte der Älteste. »Ja«, hieß es, »morgen müssen alle Männer sich dazu fertig machen.«

Am nächsten Tage gingen alle hinunter an die See. Unterwegs begegnete ihnen die Krabbe. »Wohin geht ihr, Freunde?« fragte die Krabbe. »Wir wollen gegen die Wellen kämpfen,« erwiderten die Krebse, »da sie uns des Nachts nicht schlafen lassen.«

»Ich glaube nicht, daß ihr gewinnen werdet,« sagte die Krabbe. »Die Wellen sind sehr stark, und eure Beine sind so sehwach, daß der Körper sich beinahe bis auf den Boden biegt, wenn ihr geht,« lachte sie. Die Krebse waren so böse über ihre Verachtung, daß sie auf sie zuliefen und sie kniffen, bis sie versprach, ihnen in der Schlacht zu helfen.

Als sie ans Ufer kamen, sahen die Krebse die Krabbe an und sagten: »Dein[220] Gesicht ist nach der falschen Seite gewendet, Freund Krabbe,« und sie lachten über sie, denn die Krebse machen es genau wie andere Leute und meinen, sie hätten immer recht. »Bist du fertig, die Wellen zu bekämpfen? Was für eine Waffe hast du?« »Meine Waffe«, antwortete die Krabbe, »ist ein Speer auf meinem Kopfe« – da sah sie eine große Welle kommen und lief fort. Aber die Krebse, die alle nach dem Ufer schauten, bemerkten sie nicht und wurden getötet.

Die Frauen der toten Krebse wunderten sich, daß ihre Männer nicht nach Hause kamen. Sie meinten, die Schlacht dauere sehr lange, und entschlossen sich hinunterzugehen und ihren Männern zu helfen. Als sie ans Ufer kamen und ins Wasser gingen, um sie zu suchen, wurden sie von den Wellen getötet.

Nach kurzer Zeit fand man Tausende von kleinen Krebsen, die jetzt Fiddlers genannt werden, am Strande. Als diese Kinder alt genug waren, um zu laufen, besuchte die Krabbe sie oft und erzählte ihnen von dem traurigen Schicksal ihrer Eltern. Und wenn man die Fiddlers genau beobachtet, wird man erkennen, daß sie immer bereit zu sein scheinen, ans Land zurückzulaufen, wo ihre Vorfahren lebten. Wenn sie dann wieder Mut schöpfen, stürzen sie hinunter, als ob sie mit den Wellen kämpfen wollten, aber sie finden nie den Mut und laufen immer vorwärts und rückwärts. Sie leben nicht mehr am Lande wie ihre Vorfahren, noch in der See wie die anderen Krabben, sondern am Ufer, wo die Wellen der Flut sie überspülen und sie zu zerschmettern versuchen.


  • Literatur: Journal of Am. Folklore 20, 101.

3. Aus Grönland.


Ein altes Ehepaar hatte zwei Söhne und eine kleine Tochter. Die Söhne waren berühmt wegen ihrer Kraft und ihrer Geschicklichkeit als Jäger. Sie pflegten heimzukommen, indem sie ihre Seehunde in langer Reihe an Seilen hinter sich herzogen. Aber eines Tages kehrten sie nicht zurück. Während die Eltern noch auf sie warteten, brachte ein Mann die traurige Botschaft, daß er sie beide auf einem unersteigbaren Felsen habe hängen sehen. Sie waren an den Füßen angehängt, die Köpfe nach unten, und niemand konnte zu ihnen gelangen, sie zu retten. Die Tat hatten die Binnenländer begangen. Während nun die alten Eltern in tiefer Betrübnis über ihren Verlust waren, hörten sie, daß einer ihrer Nachbarn einen Hund mit vielen Jungen hätte. Die Mutter schickte die Tochter aus, eines zu holen; das nahm. sie an Kindes statt an und hatte es immer bei sich, es nährend mit ihrer eigenen Milch. Zur Winterszeit bemerkte sie, daß der Hund, welcher Zaubermacht besaß, dann und wann sein Gesicht kratzte, und zugleich fing er jedesmal zu sprechen an und fragte: »Wie seh ich nun aus

Gegen Ende des Winters waren sie in großer Verlegenheit, da sie ihre Beschützer verloren hatten. Da sagte der Hund, er wolle ins Land spazieren gehen. In einer Nacht weckte er seine Pflegemutter, und nachdem er sich gekratzt hatte, fragte er: »Seh ich noch gut aus? Ich will morgen weggehen.« Der Grund dieses Kratzens war, daß er die Leute durch Zauber zu Tode erschrecken wollte. Er traf die Binnenländer, während sie beschäftigt waren, Geister zu beschwören. Der Angakok sagte alsbald sein Kommen voraus und schrie: »Feuer! Feuer!« Aber der Hund kratzte sein Gesicht, lief in den Gang und verbarg sich dort. Als die Leute mit Lichtern herauskamen, erschreckte der Hund sie auf der Stelle zu Tode. Hierauf machte er sich auf die Suche nach ihrem Vorratshaus, brachte einige Lebensmittel zu seinen Pflegeeltern zurück und zeigte ihnen den Platz, wo sie den Rest finden könnten. Aber von da an begann die Frau ihn zu fürchten. Und im[221] Frühling, als das Boot beladen und fertig zum Abfahren war, bat sie den Hund, nach Hause zurückzukehren und ihr etwas, was sie vergessen hätte, zu bringen. Sobald er verschwunden war, um ihren Befehlen zu gehorchen, stießen sie vom Lande ab und traten ihre Reise an. Der Hund aber begleitete sie unablässig längs des Ufers, bis sie den letzten Punkt erreicht hatten, von wo er ihnen nicht weiter folgen konnte. Da blieb er weinend und heulend stehen. Man glaubt, daß dies der Ursprung des Hundebrauches ist, das abfahrende Boot am Ufer entlang zu begleiten und am letzten Punkt des Landes ein Geheul anzustimmen.


  • Literatur: Rink, Tales and traditions of the Eskimo. Transl. by Brown S. 227.

4. Estnische Sage.


Sie beruht auf der Beobachtung, daß der Lachs ein vortrefflicher Springer ist, der Stromschnellen, Wasserfälle, Wehre mit großer Kraft, Gewandtheit und Ausdauer überspringt. Sie mag daher nicht unpassend an dieser Stelle angeführt werden, wiewohl die ausdrückliche Erklärung fehlt, daß die Lachse seitdem springen.


Ein Tagedieb liegt tagelang am Ufer eines Flusses in der Sonne und murrt gegen Gott, daß dieser ihn so arm geschaffen und er Hunger und Not leiden müsse. Eines Tages kommt ein graubärtiger Greis. »Was jammerst du?« spricht er, »sieh, der Fluß hat viele Fische, da konntest du dir mit leichter Mühe Speise verschaffen, wenn du nur ein wenig arbeiten wolltest!« Und er lehrt ihn aus Ruten eine Fischreuse machen, die der Mann zur Nacht in den Fluß stellt. Am Morgen findet er eine Menge Fische in der Reuse. Er zieht sie ans Ufer und fängt an, sie auszuweiden. Der Greis tritt wieder zu ihm und erinnert den Mann daran, Gott für den reichen Fischfang zu danken. »Was? Gott danken?« fährt der Taugenichts auf, »ist Gott etwa des Nachts hier gewesen und hat mir die Fi sche in die Reuse geschoben? Ich selbst habe eine so gute Reuse gemacht und sie richtig in den Fluß zu stellen verstanden.« Kaum hatte er das gesagt, so fangen alle Fische, auch die ausgeweideten, an zu zappeln und hüpfen zurück in den Fluß. Aus den ausgeweideten Fischen entstanden die Lachse.


  • Literatur: Aus dem hdschr. Nachlaß von J. Hurt. Vgl. ob. S. 15. 87.

5. Sage der Agni.


Das Chamäleon und die Kröte stritten sich über ihr Alter. Die Kröte sagte: »Ich bin viel älter als das Chamäleon.« Das Chamäleon sagte: »Ich bin viel älter als die Kröte.« Da sagte die Kröte zum Chamäleon: »Wer ist älter als ich? Wie war die Erde, als du auf die Welt kamst?« Das Chamäleon sagte: »Als ich auf die Welt kam, war die Erde ganz flüssig, darum gehe ich so vorsichtig tastend.« Die Kröte sagte: »Nun, als ich auf die Welt kam, bestand die Erde aus drei Berggipfeln; ich mußte auf den ersten springen, dann auf den zweiten, und dann noch auf den dritten, darum bewege ich mich noch jetzt springend vorwärts. Aber das Schmelzen der Berggipfel hat erst das Land gemacht, das du gesehen, als du zur Welt kamst; ich bin also älter als du!«


  • Literatur: Basset, Contes d'Afrique p. 198 aus Maurice Delafosse, Essai de manuel de la langue Agni. Paris 1901, p. 155. Vgl. Cowell, Jātaka 1, p. 93 [Nachträge].

6. Aus Norwegen.


Einst besuchte Odin König Olaf Tryggvason, setzte sich an sein Bett und war gesinnt, ihn zu töten, sobald er einschlief. Er war eben im Begriff, ihn zu[222] töten, als ein Floh den König stach; er erwachte und vertrieb Odin. Seitdem gab Olaf dem Floh die Macht, mehr als alle lebendige Wesen springen und auf diese Weise sein Leben erretten zu können. Früher ging der Floh, seitdem springt er, wie alle wissen.


7. Aus Indien.


Lachhman, Rams Bruder, war durch Rawan, den Dämonenkönig von Lanka, verwundet, und es war ihm von seinem Arzt gesagt worden, daß seine Wunde nur heilen könne durch einen Aufguß von Blättern eines Baumes, der auf einem Hügel des Himalaja wüchse. Hanuman bot sich an, danach zu gehen, aber als er an den Ort kam, merkte er, daß er die Beschreibung des Baumes vergessen hatte, und um einem Irrtum vorzubeugen, nahm er den ganzen Berg auf seinen Rücken und ging damit zur Ebene. Als er durch Govardhan kam, wo Bharat und Charat, der dritte und vierte Bruder Rams, damals herrschten, wurde er von ihnen bemerkt. Es war aber Nacht, und sie hielten ihn für einen seltsamen Fisch, und Bharat schoß einen Pfeil nach ihm ab. Er traf ihn ins Bein, und die plötzliche Erschütterung bewirkte, daß von seiner großen Last die Hügelkette von Govardhan herunterfiel. In seinem Schmerze rief er: »Ram, Ram!« wodurch sie erfuhren, daß er zum Heere ihres Bruders gehörte. Da ließen sie ihn weitergehen, aber er blieb lebenslang lahm durch diese Wunde. Dies begründet, dem Volksglauben nach, hinreichend den hinkenden Gang aller Affen dieser Art.


  • Literatur: Panjab Notes and Queries 3, 72.

8. Sage der Hottentotten.


Der Schakal und die Hyäne waren beisammen, als eine weiße Wolke aufzog. Da stieg der Schakal hinauf und aß, als wäre es Fett, von der Wolke. Als er hinunter wollte, sagte er zu der Hyäne: »Schwesterchen, da ich dir auch etwas lassen will, fange mich recht hübsch auf!« Da fing sie ihn auf. Dann folgte sie seinem Beispiel und aß auch dort oben. Als sie satt war, sprach sie: »Mein Bruder, du Fahler, fange mich nun auch hübsch auf!« Da antwortete der Fahle: »Ich werde dich schon auffangen, komm nur herab.« Da hielt der Schakal die Hände auf, und die Hyäne kam von der Wolke herunter. Als sie nun nahe war, rief der Schakal, indem er wie vor Schmerz beiseite sprang: »Ach Schwesterchen, nimm mir's nicht übel. O weh, o weh, o weh! Ein Dorn hat mich gestochen und sitzt nun fest!« Die Hyäne stürzte also herunter, ohne aufgefangen zu werden, und seitdem ist ihr linker Hinterfuß kürzer als der rechte.


  • Literatur: Bleek, Reineke Fuchs in Afrika, S. 12 f. (Wenn die Hyäne sich zuerst in Bewegung setzt, so scheint sie auf den Hinterfüßen zu lahmen.)

Parallele: Das Kaninchen' läßt den Fuchs auf einen Baum steigen, um die schönen weißen Muskateller Birnen zu fressen. Als der Fuchs herunterspringen will, er bietet sich das Kaninchen, ihn aufzufangen, aber als es springt, behauptet es, einen Dorn im Fuß zu haben und läßt ihn so herunterfallen, daß er lange Zeit nicht gehen kann.


  • Literatur: Journ. of Am. Folklore 6, 249.

9. Aus Frankreich (Mittelalterliche Sage).


Die hl. Opportune, Äbtissin v. Almenesches, sieht, daß die wilden Gänse ihren Feldern zu viel Schaden zufügen, und befiehlt ihnen, fortzufliegen. Die Gänse versammeln sich, fliegen aber nicht fort, sondern rufen nach einer fehlenden, die einer der Klosterleute gegessen. Die Äbtissin läßt die Knochen bringen, betet, und das[223] Tier wird wieder lebendig, nur fehlt ein Knochen vom Schenkel. Seitdem hinken die wilden Gänse auf einem Bein.


»Pour un os qui fut faillant

Vont les jantes d'un pied clochant.«


  • Literatur: Sébillot, Folklore 3, 160.

10. Sage der Chippeway.


[Dem Häuptling Omegissago fallen beim Sprechen Muscheln und Perlen aus dem Munde. Zwei Häuptlingstöchter haben davon gehört und wollen ihn heiraten. Ein Betrüger täuscht sie, Omegissago hört davon, überrascht ihn und verfolgt ihn.]

Er spannte seinen Bogen, legte seinen nie fehlenden Pfeil darauf, faßte sein Opfer ins Auge und wollte eben losdrücken, als dem bedrängten Schingebis die furchtbare Herzensangst Flügel verlieh, dicht befiederte Vogelflügel, die ihm statt seiner Arme aus den Schultern hervorwuchsen. Sein Leib schmolz dabei zu dem ganz kleinen, magern Körperchen eines Wasservogels zusammen und bedeckte sich mit einem wasserdichten Federpelze. Schreiend und mit dem melancholischen Klagelaute, welcher der kleinen, von den Indianern Schingebis genannten Ente eigen ist, flatterte er aus seinem Canoe ins Wasser hinaus, und da er alsbald darin untertauchte, so flog der indes abgeschossene Pfeil des Omegissago in einem weiten Bogen über ihn hinweg.

Schingebis lebt seitdem wild in den Schilfverstecken einsamer Seen. Es ist ein außerordentlich schönes und schüchternes Tierchen. Alle seine Bewegungen scheinen Angst und Furcht zu verraten. Er laviert beständig auf dem Wasser hin und her wie ein Blatt im Winde. Ruhelos wie ein ihm angehängter Quecksilbertropfen nickt sein Köpfchen auf und ab, und bei jedem verdächtigen Geräusche hebt er es auf lang ausgestrecktem Halse hoch empor und wirft es spähend rechts und links herum. Gewahrt er aber zufällig einen Indianer am Ufer, so überfällt ihn der Schrecken der Erinnerung an seinen Feind Omegissago, und er taucht hurtig in die Tiefe des Sees hinab, indem die Pfeile des Jägers oft in eben so hohem Bogen über ihn hinwegfliegen, wie einst die seines muschelspeienden Verfolgers.


  • Literatur: Ausland 1859, S. 793 ff. Mitget. v.J.G. Kohl.

11. Variante der Arapaho.


Ein schönes Mädchen sagt ihrem Vater, daß sie einen jungen Mann suchen will, den Herrn Muschelspucker, der wegen seiner Schönheit berühmt ist. Der Vater willigt ein. Das Mädchen macht sich auf und kommt zu einem Lager, wo ihr gesagt wird, daß der Muschelspucker noch weiter weg sei. So kommt sie noch an weiteren Lagerplätzen vorbei, bis sie endlich den fünften erreicht. Dort ist gerade Vorbereitung zur Sonnentanzzeremonie, an der Muschelspucker teilnehmen soll. Als Schlitzrumpf (ein kleiner Vogel) hört, daß das schöne Mädchen gekommen ist, um den Herrn Muschelspucker zu heiraten, geht er hinaus, um ihr zu begegnen. Sie fragt ihn, wo sie Herrn Muschelspucker finden kann. Er gibt sich für ihn aus, aber sie erwidert, sein Äußeres passe nicht zu der Beschreibung, und fordert ihn auf, hörn shells zu spucken. Er spuckt aber cut-bone Shells. Endlich beschließt sie, mit ihm als Frau zu gehen. Die Sonnentanzzeremonie soll beginnen, und die Leute sind zum Tanze bereit. Schlitzrumpf soll auch daran teilnehmen. Die Häuptlinge mögen aber Schlitzrumpf nicht leiden, sie finden, daß er stört, und das Volk will ja doch auch den schönen Herrn Muschelspucker sehen. So befehlen sie Schlitzrumpf, mit Tanzen aufzuhören und legen ihn auf die Erde, daß Herr Muschelspucker darauf tanzen solle. So tanzt dieser auf dem Bücken des kleinen Vogels. Davon[224] birst dessen Rumpf auseinander. Die Nacht bricht an, und Schlitzrumpf geht nach Hause Er befiehlt seiner Mutter, das Mädchen streng zu bewachen. Einmal kommt sie doch zum Tanzhaus und sieht einen schönen jungen Mann. Wenn er sich ausruht, spuckt er hörn Shells aus, und die Kinder sammeln sie auf. Die Häuptlinge sagen den Kindern, sie mögen zurücktreten, damit das Mädchen, das gekommen sei, Herrn Muschelspucker zu sehen, die Muscheln auflesen könne. Sie geht zu Herrn Muschelspucker und setzt sich zu ihm hin, als ob sie seine Frau wäre. Nach dem Tanz gehen sie als Ehepaar zu Herrn Muschelspuckers Eltern. Einige Zeit danach tötet Schlitzrumpf seinen Rivalen. Man sucht nach ihm, er entflieht zum Flusse und taucht ins Wasser. Nach vielem vergeblichen Jagen und Versuchen, einen See leer zu machen, verfluchen die Leute den Vogel, immer in der Nähe des Sees zu bleiben und nicht hoch zu fliegen.


  • Literatur: Dorsey and Kroeber, Trad. of the Arapaho, p. 459.

12. Aus Annam (Provinz Quangbinh).


Der Taucher frönte dem Spiele und verlor. Er spielte mit einem Vogel, dessen Name nicht genannt wird, den man jedoch am Ruf erkennt. Sobald dieser des Tauchers ansichtig wird, schreit er: »Du hast verloren, Taucher«, worauf dieser sofort untertaucht, um seine Schande zu verbergen. Erst nach einer Weile kommt er wieder hervor, hebt den Kopf und schaut mit verstörter Miene um sich, bis er von neuem den spöttischen Ruf hört und schnell wieder untertaucht.


  • Literatur: Globus 81, 303.

13. Aus Malta.


Als der Meister die großen Wasser schuf und die Fische, ließ er ein prächtiges Tier erstehen, das er Delphin hieß, und dem er das menschliche Herz im Ganzen, den menschlichen Verstand zur Hälfte mitgab. Und dann befahl er ihm, die Menschen auf seinem breiten Rücken von einem Ufer zum andern zu tragen. Und das Tier gehorchte, war unermüdlich im Tragen der menschlichen Lasten und dabei stets willig und sanft. Nun aber geschah es, daß eine Frau ihrem Manne, den sie betrogen, entfloh, und sie sagte zum Delphin: »Bringe mich übers Meer, an das entfernteste Ufer!« Da sagte der Delphin: »Gut, nur mußt du mir genügend Fleisch verschaffen, sobald wir ankommen; ich kann mich nicht darum bekümmern!« Die Frau, die listige, gab ihm recht und sagte: »Gleich nach der Ankunft erhältst du ein halbes Kalb!« Und so trug er sie übers Meer. Sie aber wollte sich vor den Nachstellungen ihres erzürnten Mannes schützen und sagte zum Delphin: »Nun warte du hier, damit ich dir das Fleisch hole, du sollst Kraft haben, mich wieder zurückzutragen, warte aber ja auf mich, lasse dich durch nichts bestimmen, allein zurückzukehren!« Sie hatte aber ein schwarzes, grausames Herz und dachte: »Bleibt das einfältige Tier am Strande liegen, in der Sonnenglut, so wird es schwerlich mehr Menschen übers Meer tragen, und wenn es, dank seiner dicken Haut, doch nicht eingeht, so gewinne ich immerhin einen großen Vorsprung; mein Mann hat kein Mittel, übers Meer zu reisen!« So floh sie weg, weit weg vom Strande, und ging hin in fremde Länder. Der Delphin aber wartete und fühlte immer mehr, wie ihn der Hunger überwältigte. Er vermutete, dem Weibe sei ein Unglück begegnet, und war betrübt, da sein Herz rein war und gut.

Der Meister aber sah alles und ergrimmte über die Bosheit der Menschen. Er wußte, daß der einfältige Delphin nahe daran war, Hungers zu sterben, und er erbarmte sich und sagte: »Steig du nur ins Meer und suche deine Nahrung hinfort[225] in diesem. Von den Menschen und ihren Schlichen sollst du unabhängig sein und dein Rücken ungeeignet, Lasten zu tragen!« Mit diesen Worten verdrehte er ihm den Schwanz in einer Weise, die es verhinderte, daß sich Menschen auf den Rücken eines Delphins setzten. Der Schwanz ist steuerähnlich, die Rückenflossen zurückgebogen, und deswegen muß er in einer Weise sich fortbewegen, die nichts gemein hat mit den Bewegungen der Schiffe. Sein Schwanz hilft ihm nicht, und brächte er es nicht zuwege, seinen Körper und seinen Atem richtig zu gebrauchen, so müßte er untersinken. Der Meister hat den Delphin von jeher geliebt und hat ihm deswegen gestattet, das menschliche Herz und den menschlichen Verstand beizubehalten. So kommt es auch, daß ein Delphin nie zum Angreifer wird, wenn es sich um Menschen handelt, und da er sich noch immer an die Zeiten erinnert, in der er sich den Menschen dienstbar machte und in denen er oftmals schönen Gesang und süße Musik vernahm, verfolgt er die Schiffe, auf denen gespielt wird, betrachtet die Insassen eines Bootes mit klugen Augen und ist dankbar für die Bissen, die ihm vom Menschen zugeworfen werden: er kann eben nicht vergessen, weshalb er er schaffen ist.


  • Literatur: Frdl. Mitt. von Frl. B. Ilg.

14. Indomohammedanische Sage.


Bei der Schöpfung warnte der Löwe den Elefanten vor dem Menschen, der ihn unterwerfen und auf ihm reiten könne. Der Felsen warnte ihn vor einem kleinen Insekt, der Ameise, die in sein Ohr kriechen und ihn zu Tode stechen könne. Die erste Warnung beachtete der Elefant nicht, wurde vom Menschen unterworfen, und man kann ihn oft darüber aus Kummer Staub auf sein Haupt streuen sehen. Um dem Rest der Prophezeiung zu entgehen, bewegt er fast immer seinen Kopf von einer Seite zur anderen und klappt mit seinen großen Ohren.


  • Literatur: Notes and Queries 3. Ser., 6, 142.

15. Aus Flandern.


Eines Tages, ich weiß nicht mehr, wie lange es her ist, hatten die Vögel den vierfüßigen Tieren den Krieg erklärt. Als nun die Schlacht geschlagen werden sollte, befand sich die Bachstelze in der vordersten Reihe, und kurz ehe der Kampf begann, blickte sie sich noch einmal um und wollte sehen, wie stark das Heer der Ihrigen sei. Aber ach! Fast alle ihre Kampfgenossen waren winzig klein im Vergleich zu den Feinden. Da klopfte ihr das Herz so, daß ihr Schwanz zu zittern anfing und auf und ab wippte. Obgleich damals die Vögel siegten, so denkt die Bachstelze noch heute an diesen Tag der Angst, besonders, wenn sie sich auf die Erde niederläßt; dann kommt jedesmal die Furcht wieder über den kleinen Vogel, und man sieht seinen Schwanz auf und ab wippen.


  • Literatur: Mont en Cock, Vlaamsche Vertelsels.

16. Aus Loango.


Die Bachstelze erfand die Trommel und trommelte nach Herzenslust. Das hörte ein Mann und wollte die Trommel haben. Er wettete mit der Bachstelze, daß er besser zu trommeln verstände als sie. Als die Sache zum Austrag kam, wurde zugunsten des Mannes entschieden, denn der hatte zehn Finger, die Bachstelze nur ihren Schwanz. Der Gewinner nahm die Trommel und ging zu den Menschen. Aber die Bachstelze kann das Trommeln nicht lassen, immer wippt sie mit dem Schwänzchen.


  • Literatur: Pechuël-Loesche, Volkskunde von Loango, S. 105.

[226] 17. Sage der Diegueños.


Warum die Fliegen die Füße aneinanderreihen? Sie bitten die Menschen um Vergebung, da diese durch ihren Kat sterblich geworden sind. [Siehe in einem späteren Band unter: Warum die Menschen sterben.]


  • Literatur: Journ. of Am. Folklore, 14, 183.

18. Sage der Zuñi (Neu-Mexiko).


Vor langer Zeit, als unsere Vorfahren sich schon in dem Hügelland niedergelassen hatten, geschah folgende Geschichte mit den Kippkäfern, das sind Käfer, die im Frühling und Vorsommer auf dem Boden herumlaufen, ihre Beine in die Höhe werfen und den Kopf in jeden Riß und jedes Loch bohren, das sie finden.

Also damals lief einer von diesen Käfern auf einem Bergwege in der Sonne hin und her, als gerade ein Präriewolf des Weges kam. Der spitzte seine Ohren, schnüffelte herum und streckte die Pfote aus, um den Käfer zu greifen. »Ho!« rief er, »ich werde dich zerbeißen«.

Da steckte der Käfer seinen Kopf in die Erde, hob die Füße in die Luft und rief: »Halt, halt, Freund! Wart' einen Augenblick, ich höre etwas Seltsames da unten, um Gotteswillen wart' einen Augenblick!«

»Na, was hörst du denn?« fragte der Präriewolf.

»Still, still,« rief der Käfer und hielt seinen Kopf noch immer in die Erde, »höre nur!«

Da zog sich der Präriewolf ein bißchen zurück und versuchte auch zu horchen. Nach einer Weile erhob sich der Käfer mit einem Seufzer der Befriedigung.

»Nun, was gab es denn?« fragte der Präriewolf.

»O, Gott sei uns gnädig!« rief der Käfer kopfschüttelnd. »Ich hörte, wie sie unten berieten und sagten, morgen wollten sie jeden bestrafen und verjagen, der die Straßen dieses Landes beschmutzt habe, und sie sind schon auf dem Wege.«

»O weh, o weh,« rief der Präriewolf, »das hab ich all diese Tage getan, da will ich nur machen, daß ich fortkomme,« und weg war er.

Der Käfer aber machte einen Luftsprung nach dem andern vor lauter Freude, daß ihm die List gelungen war, und steckte seinen Kopf so fest in den Sand, daß er beinah abgedreht wurde.

Seit dieser Zeit aber haben all diese Käfer, die Nachkommen jenes einen, die merkwürdige Gewohnheit, die Beine in die Luft zu werfen und den Kopf in den Sand zu stecken.


  • Literatur: Cushing, Zuñi Folk Tales S. 235.

19. Aus Luxemburg.


Sobald der Mensch den Ochsen sah, bemerkte er auch seine große Kraft und gebrauchte ihn, um Lasten zu ziehen. Der Ochse gehorchte der Stimme des Herrn und zog die schweren Lasten schnellen Schrittes. Doch als er nach vielen Arbeitsjahren die Buhe, die er ersehnte, nicht kommen sah, wagte das nützliche Tier seinen Führer zu fragen, wann es sich endlich ausruhen dürfe. »Niemals«, antwortete der Mensch, »du wirst bis zum Ende deiner Tage arbeiten.« »Ach, wenn es so ist,« sagte der Ochse, »werde ich mich künftig nicht beeilen.«

Und seitdem geht er bedächtigen Schrittes einher.


  • Literatur: A. Harou, Revue des trad. pop. 13, 344 = Sébillot, Folklore 3, 74.

20. Aus Polynesien.


a) Die ersten Menschen liefen auf vier Füßen, während das Schwein aufrecht lief. Den anderen Tieren gefiel das nicht, und auf ihren Wunsch sprang die Eidechse[227] auf den Rücken des Schweines und ließ es auf seine Vorderpfoten fallen. Seitdem läuft das Schwein auf allen vier Pfoten, der Mensch aber geht aufrecht. (Aus Erro-manga, Neu-Hebriden).


  • Literatur: Réville, Relig. d. peuples non-civilisés = Turner, Polynesia S. 496.

b) Als Qat den Menschen erschaffen hatte, sollte dieser aufrecht auf den Beinen gehen. Da baten ihn die Brüder, daß die Schweine, die bis dahin ebenfalls auf zwei Beinen gingen, nunmehr auf allen Vieren laufen sollten, was denn auch geschah. (Banks-Inseln.)


  • Literatur: Globus 40, 378.

21. Hottentottisches Häufungsmärchen. (Aus Klein-Namaqualand.)


Die Maus hatte des Schneiders Kleid zerrissen. Der ging zum Pavian und klagte die Maus an. Die schob aber die Schuld auf die Katze, die Katze auf den Hund, der Hund auf das Holz, das Holz auf das Feuer, das Teuer auf das Wasser, das Wasser auf den Elefant, der Elefant auf die Ameise. Darum lud der Pavian alle zum Verhör. Weil aber jeder die Schuld auf den andern schob, so konnte der Pavian keine bessere Strafweise finden, als daß er den einen den andern bestrafen ließ. Er sprach: »Katze, beiß die Maus! Hund, beiß die Katze; Holz, schlag den Hund! Feuer, brenne das Holz! Wasser, lösche das Feuer! Elefant, trinke das Wasser! Ameise, kneife den Elefanten!« So taten sie denn, und seit der Zeit können sie sich nicht mehr miteinander vertragen. Die Ameise kneift den Elefanten, der Elefant trinkt das Wasser usw. – Seit jenem Tage geht der Pavian auf allen Vieren. Er hat wohl die Fähigkeit, aufrecht zu gehen, durch dieses närrische Urteil eingebüßt (?).


  • Literatur: Bleek, Reineke Fuchs in Afrika.

22. Singhalesische Sage.


a) Der Jagdleopard (cheetah = Sanskr. citraka) bat einst die Katze, ihn das Klettern zu lehren. Die Katze willigte erfreut ein, aber im Hochgefühl, einen solchen Schüler zu haben, vergaß sie ganz, ihn zu lehren, wie man wieder herunterkommt, oder, was wahrscheinlicher ist, lehrte es ihn nicht, da sie es selbst nicht konnte und ihre Unwissenheit nicht zeigen möchte. Als der Leopard sich nun oben im Baum so im Stiche gelassen sah, schwor er seinem Guru ewige Bache. Wie er herunter kam, wissen wir nicht, – ob er herunter sprang oder glitt, so gut es ging. Die Wahrheit der alten Sage wird genug bezeugt durch des Leoparden Ungeschick im Herunterklettern. Er ist ein guter Kletterer, aber wenn er herunterkommen will, kann er sich nur langsam am Stamm entlang kratzen, mit dem Hinterteil voran.

Seitdem schont kein Leopard die Katze, aber seine Verehrung für den ehemaligen Lehrer ist doch so groß, daß er, statt ihn gleich zu fressen, ihn auf einen erhöhten Platz legt und verzehrt.


  • Literatur: Orientalist 2, 149 (verkürzt auch im Indian Antiquary 33, 229.)

b) Die Tiger waren früher unwissend, bis einst der König der Tiger zur Katze kam und um Unterricht bat. Die Katze willigte ein und lehrte den Tiger lauern und springen, und was sonst ihre Basse weiß. Zuletzt, als der Tiger glaubte, die Katze habe ihn alles gelehrt, sprang er auf sie zu, um sie zu zerreißen und zu fressen. Da lief die Katze schnell auf einen Baum, und der Tiger konnte nicht folgen. »Komm herunter«, rief der Tiger, »komm gleich herunter!« »Nein«, rief die[228] Katze. »Wie gut, daß ich dich nicht alles lehrte, sonst könntest du mich selbst hier verfolgen.«


  • Literatur: Orientalist 2, 150 = Swynnerton, Rāja Rasāla, appendix S. 179 (Legends of the Panjab).

23. Persische Sage.


Ali hatte sich eines Tages zum Austeiler der Rationen an die Menschheit gemacht; Omar, der Ali des Betruges überfuhren wollte, trat vor ihn mit einem Getreidekorn zwischen Daumen und Zeigefinger, sehr geneigt, es zu verschlucken, wenn Ali das Eigentum daran leugnen würde, um ihn zur Lüge zu verführen, oder es wegzuwerfen, wenn er es ihm aufhalsen würde. »Ali,« sprach er, »ist dieses Korn für meine heutige Ration bestimmt?« – »Nein«, antwortete dieser. In demselben Augenblick stürzte sich Omar mit dem Korn in der Kehle mit einer solchen Gewalt auf ihn, daß ihm das Korn sofort wieder herausfuhr.

Alis Katze, die zwischen den Füßen ihres Herrn einen Buckel machte, verschluckte sofort das Korn, das Omar entschlüpft war, welcher hustend und verwirrt davonging. Zur Erinnerung an diesen Dienst gab Ali der Katze die Eigenschaft, die Erde niemals mit ihrem Rücken zu berühren.


  • Literatur: Revue des trad. pop. 12, 667 = Le Tour du monde 1862, 2, 124.

24. Aus Kleinasien.


Der Prophet hatte sich zu weit in die Wüste gewagt und war nach langem Laufen eingeschlafen, vor Ermüdung geschwächt.

Da kam eine große Schlange, die von Gott geschickt war, aus dem Gebüsch und kroch zu ihm heran. Sie wollte den Diener des Barmherzigen beißen, da stürzte sich die Katze, die zufällig vorbeikam, auf das Reptil und machte es nach langem Kampfe tot.

Der Prophet erwachte von dem Gezisch des verendeten Untiers. Dann erkannte er, von welcher Gefahr ihn die Katze errettet hatte. »Komm!« befahl Allahs Diener. Die Katze kam herbei.

Der Prophet liebkoste die Katze dreimal, und dreimal segnete er sie, indem er sprach:

»Der Segen sei über dir, Katze!« Dann fügte er zum Zeichen seiner Erkenntlichkeit hinzu:

»Zur Belohnung für das Gute, das du mir getan hast, wirst du unbesiegbar sein in den Kämpfen. Keine Kreatur der Erde wird dich auf den Rücken werfen können. Geh, und nochmal sei dreifach gesegnet!«

Infolge dieser Segnung des Propheten, so sagen die Türken, fällt eine Katze immer auf ihre Füße, von welcher Hohe sie sich auch herabstürze.


  • Literatur: Carnoy et Nicolaïdes, Trad. pop. de l'Asie min., p. 232 f. (Aus Indge-Sou = Caesarea.)

25. Aus Indien.


Vor langer Zeit lebten eine Anzahl Affen zusammen im Dschungel. Einer davon lief mit der Frau eines anderen davon und die Affen verstießen ihn aus ihrer Gemeinschaft. Eines Tages kam er wieder und sagte: »Es wird nun bei den Stadtleuten als Vergehen angesehen, mit der Frau eines anderen wegzulaufen, aber es; ist nie so im Dschungel gewesen. Ich schlage vor, daß wir in Zukunft unsere Frauen gemeinsam haben, und wer eine für sich allein nimmt, soll zur Strafe vom Baum fallen.«

Den Affen war es recht, und seitdem haben sie keine Ehegesetze, und niemand fällt vom Baum.


  • Literatur: Indian Antiquary 35, 180.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 219-229.
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