VIII. Wildheit und Zahmheit, Schaden und Nutzen der Tiere.

[249] 1. Aus Nordindien.


In der guten alten Zeit wurde das Feld nicht bestellt, und es gab kein Pflügen. Die Leute nahmen des Morgens ein einziges Reiskorn in die Hand, gingen dreimal um einen Ochsen und fragten ihn: »Wird das für den Tag genügen?« Und der Ochse nickte, und das Korn genügte den Tag über für die Familie. Eines Tages, als ein Gast in das Haus eines zu sorgsamen Mannes kam, brachte dieser dem Ochsen zwei Körner Reis. Dieser wurde zornig und verfluchte das Menschengeschlecht. Seitdem haben die Menschen für ihren Unterhalt arbeiten müssen, und auch der Ochse litt unter seinem Fluche, denn er hat seitdem den Pflug ziehen müssen.


  • Literatur: North Indian Notes und Queries 5, 85.

2. Sage der Shuswapindianer (Nordamerika).


Die Brüder gingen den Bonaparte Creek hinauf. Dort ist ein steiler Felsen, auf dem lebte die Bergziege, die alle tötete, die sie zu fangen versuchten. Am Fuße des Felsens war ein Hund, der die Vorübergehenden biß. Tlē'esa sprach: »Ich will die Bergziege töten und das Fett mit meinem Tabak mischen.« Die Brüder glaubten, er werde den Fels nicht ersteigen können. Er ließ sich aber nicht abhalten und ging, das Abenteuer zu bestehen. Als der Hund ihn beißen wollte, spießte er ihn auf seinen Stock und warf ihn zu Boden, indem er rief: »Du wirst niemand mehr töten! Künftig sollen die Menschen Dich benutzen.« Er kletterte den Fels hinauf. Als die Ziege seiner ansichtig wurde, wollte sie ihn hinunterwerfen. Er aber spießte sie auf seinen Stock auf und zertrümmerte mit seinem Hammer ihren Kopf. Dann warf er sie den Berg hinunter und sprach: »Du sollst niemand mehr töten. Künftig sollen die Menschen Dich töten und verzehren.« Sie kam ganz zerrissen unten an. Die Brüder hoben sie auf und nahmen alles Fett, das sie mit ihrem Tabak mischten. So blieb für Tlē'esa nichts übrig.


  • Literatur: Boas, Indianische Sagen, S. 3. Zum Ursprung der Abhängigkeit des Hundes vom Menschen, siehe Bd. 1, S. 256.

[249] 3. Sage der Wotjaken.


Als der liebe Gott eines Tages auf der Erde spazieren ging, begegnete er einer Wespe und bat sie um Honig. Die Wespe sagte zu ihm: »Ich gebe dir keinen, ich habe selbst kaum genug für mich«.

Da antwortete der liebe Gott: »Da du mir keinen Honig geben willst, wirst du auch wenig für dich haben und sehr wenig für andere.« Dana traf der liebe Gott eine Biene und bat sie um Honig. Die Biene antwortete: »Ich habe Honig für dich, soviel du willst.« Gott sagte zu ihr: »Da du nicht geizig bist, wirst du immer viel Honig für andere haben und Wachs für mich.«


  • Literatur: Revue des trad. pop. 13, 255. Vgl. Gabenverteilung.

4. Rumänische Sage.


Ein Kaiser lud zu seinem Hochzeitsschmaus alle Welt ein, nur die Geistlichen und Nonnen nicht. Die baten Gott, den gottlosen Herrscher zu strafen, und als alles zum Mahle fertig war, sandte Gott einen Heuschreckenschwarm (Tachytylus migratorius L.), der alles auffraß. So wurde der Kaiser bestraft, weil er Gottes Hilfe entbehren zu können glaubte. Seitdem erscheinen die Heuschrecken immer dann, wenn die Menschen Gott vergessen.


  • Literatur: Marianu, Insectele, S. 508.

5. Aus Formosa.


Eine Bulong-Schlange liebte ein junges Mädchen, der er als schöner junger Freier erschien. Er täuschte die Wachsamkeit der Eltern dadurch, daß er sich erst im Hause verwandelte. Es war die alte Geschichte von der Schwachheit des Weibes, und das Mädchen gebar ein Kind, das aber zum Erstaunen aller nur bis zur Taille menschlich war, der Unterkörper war der einer Schlange. Da die Eltern wußten, daß sie unter den jungen Männern des Dorfes keinen Geliebten hatte, hatten sie sogleich Verdacht, es könne etwas Übernatürliches im Spiele sein, und sie dachten nun daran, daß sie öfters zu einer bestimmten Zeit eine Schlange über den Hof hatten kriechen sehen, aber sie hatten das unschädliche Reptil lau fen lassen. Jetzt aber gaben sie acht, und als die Schlange wieder erschien, töteten sie sie. Dies erwies sich jedoch als so ungünstig für sie, daß man beschloß, nie wieder eine Schlange zu töten. Jene Handlung aber erzeugte einen solchen Geist der Rache unter den Schlangen, daß sie alle der Menschheit ewige Rache schworen. Durch Hilfe von Priesterinnen wurden sie der Fähigkeit beraubt, menschliche Gestalt anzunehmen, und so wurde ihre Macht, zu schaden, beschränkt. Seitdem aber ist der Biß der Bulong-Schlange tödlich, und der vieler anderer Schlangen verursacht viele Schmerzen.


  • Literatur: Folklore Journal 5, 153.

6. Aus Estland.


Früher gab es keine Schlangen, und die Menschen konnten sorglos durch die Wälder gehen. Doch eins war damals schlimmer: die Erde war voll Gift, und es gab kein Tier, welches dieses Gift ausgesogen hätte. Wenn die Sonne untergegangen war, so trat das Gift in Gestalt von spitzen Nägeln aus der Erde. Und wenn jemand mit bloßem Fuß darauf trat, so starb er. Durch dieses Gift der Erde starben sehr viel Menschen.

Schließlich gedachte der himmlische Vater, Tiere zu schaffen, die das Gift der Erde in sich saugen würden. Gott schuf die Schlangen.

[250] Die Schlangen wurden aber durch das Gift so böse, daß sie auch die Menschen mit ihrem Biß vergifteten.

Dennoch sterben jetzt die Menschen durch die Schlangen viel weniger, als damals durch die Giftnägel.


  • Literatur: Aus dem hdschr. Nachlaß von J. Hurt.

7. Aus Frankreich.


In alter Zeit, als der Wassergott Lust hatte, sein ganzes, ungeheures, unterseeisches Reich zu besuchen, nahm er den Seeaal mit sich, welcher damals der König der Fische war und, da er zahlreiche Reisen gemacht hatte, den Meeresgrund durch und durch kannte. Der Wassergott befahl ihm, ihn zu führen, und sie machten sich auf den Weg. Aber der König der Fische war eifersüchtig auf den Wassergott und faßte einen Plan, ihn zu verderben. Er führte ihn an einen Punkt des Meeres, wo sich eine Herde Haifische aufhielt, welche ebenfalls den Wassergott haßten; sie hätten ihn erdrosselt, wenn dieser nicht, von seiner Macht Gebrauch machend, plötzlich den Blitzstrahl der Wellen hätte auf sie fallen lassen. Sie wurden alle getötet, und es blieb bei dem Gott nur noch der König der Fische, der verräterische Seeaal. Der Wassergott sprach zu ihm:

»König der Fische, du hast mich verraten; von nun an hasse und verfluche ich dich. Alle Fische werden dich verwünschen, und die Fischer werden dich hassen, denn von nun an wird dein Stachel mit einem Gifte gefüllt sein, welches Leiden und selbst den Tod bringen wird denen, die davon gestochen sein werden. Ich entziehe dir auch den Königstitel, du wirst immer unglücklich sein sowie alle deines Stammes.«

Und seit diesem Tage ist der Stich des Seeaales tödlich, was ihm die Verwünschung aller Fischer zuzieht. Seitdem der Seeaal nicht mehr König der Fische ist, erkennen sie heute als Oberhaupt den Rötling (rouget) an. Auch lieben die Seeaale nicht die Rötlinge, und man versichert, daß sie sich oft bekriegen.


  • Literatur: Revue des trad. pop. 3, 616.

8. Aus Finnland (Harjava).


Einst begegnete ein Bettler auf seiner Wanderung einem Bärenjungen, ergriff es und steckte es in seinen Zwerchsack, um es in das Dorf zu tragen. Er hängte sich den Sack über die Schulter und ging dem Dorfe zu. Da kam die Bärenmutter an den Ort, wo sie ihr Junges verlassen hatte, und als sie merkte, daß es verschwunden war, fing sie an, herumzuschnuppern, bis sie die Spuren des Bettlers entdeckte; nun ging sie ihnen nach. Sie kam bereits in die Nähe des Bettelgreises und hörte das Klagen ihres Jungen aus dem Sack des Mannes; da erhob sie ein gewaltiges Geheul. Das hörte der Alte und merkte, daß der Bär herankam; er warf seinen Sack auf den Weg und kletterte selber auf einen Baum. Der Bär trat an den Sack heran und fing an, ihn zu beschnüffeln. Das Junge winselte im Sack, der Bär faßte den Sack an, griff an das eine Ende, denn es waren zwei Enden daran, und der Alte hatte ihn in der Mitte zugebunden. Aber wie sich auch der Bär bald an dem einen, bald an dem anderen Ende abmühte, das Junge fiel doch nicht heraus. Zuletzt erfaßte der Bär das eine Ende und schlug das andere, worin das Junge steckte, gegen einen Fichtenstamm, so daß das Junge im Sack zu Brei zerschmettert wurde. Dann ging der Bär brummend in den Wald zurück, und der Alte mochte die Überbleibsel des Bärenjungen tragen, wohin er wollte. Doch seit dieser Zeit haben alle Bären einen Haß gegen Zwerchsäcke bekommen, und wenn[251] sie einen treffen, der einen Zwerchsack auf dem Rücken hat, töten sie ihn sofort und fressen ihn auf.


  • Literatur: Frdl. Mitt. von Herrn Prof. K. Krohn.

9. Sage der Eskimo an der Beringstraße.


Takukas Mann sagt vorher, daß er sterben werde, und gibt seiner Frau Anweisungen, was sie danach mit ihm zu tun habe. Takuka folgt nach seinem Tode diesen Anweisungen und geht dann voll Trauer weit weg bis auf einen Berg. Sie bemerkt Menschen, tritt näher und sieht ihren Mann mit drei anderen Frauen zusammen. Am nächsten Morgen, als ihr Mann die Frauen verläßt, geht sie in deren Haus. Die drei wünschen ebenso tätowiert zu werden wie Takuka, und sie tötet sie alle drei, indem sie sie beim Tätowieren in siedendes Öl taucht. Darauf hüllt sie sich in die Haut eines roten Bären und verbirgt sich. Der Mann kommt bald nach Hause, jammert über die toten Frauen und ruft die Geister oder Menschen zur Stelle, die ihm dies angetan hätten. Er sieht Takuka als Bär, will diesen erschießen, wird aber von ihm zerrissen. Takuka kann nun nicht mehr aus der Bärenhaut heraus und bleibt ein Bär. Darauf geht sie nach Hause und zerreißt auch ihre Kinder. Endlich wird sie von einem Jäger getötet.

Bis dahin waren die roten Bären harmlos gewesen, aber Takuka erfüllte sie mit ihrer Wut, so daß sie seitdem wild geworden sind.


  • Literatur: Inhaltsangabe nach Nelson, The Eskimo about Bering Strait, S. 367.

10. Sage der Chippwyans.


Der weiße Bär und der schwarze Bär leben mit einigen Tieren zusammen, darunter ist auch der Fuchs. Da dieser stets Böses stiftet, nimmt ihm der weiße Bär seine rechte Schulter fort, so daß er krank wird. Die Krähe stiehlt sie aber dem weißen Bären und gibt sie dem Fuchs wieder. Weil der schwarze Bär den weißen nicht schnell genug benachrichtigt, wird er verjagt, und seitdem leben diese Bärenarten getrennt.

Aus Wut nimmt nun der weiße Bär die Sonne vom Himmel und hängt sie in seine Höhle. Die Krähe stiehlt sie wiederum durch große List und rettet die Welt aus der Dunkelheit. Als der weiße Bär sah, daß er wieder von der Krähe überlistet war, wurde er voll Zorn, und seitdem sind die weißen Bären bösartig.


  • Literatur: Journ. of Am. Folklore 16, 78.

11. Aus Kamerun.


Das Ohrenschmalz und der Moskito waren arme Leute. Eines Tages besuchte das Ohrenschmalz den Moskito und sprach zu ihm: »Wir wollen beide in den Wald gehen und Palmnüsse holen. Später machen wir Palmöl daraus und verkaufen dieses. Dann sind wir nicht mehr so arm.« Der Moskito willigte ein.

Sie gingen nun in den Wald. Als sie an eine Ölpalme kamen, sprach der Moskito zum Ohrenschmalz: »Steige auf die Ölpalme!« Doch das Ohrenschmalz lachte und erwiderte: »Moskito, steige du nur hinauf und schneide die Palmnüsse ab! Ich will sie auflesen.«

Da stieg der Moskito auf die Ölpalme. Das Ohrenschmalz sammelte aber die Palmnüsse nicht, die herabfielen. Es sagte vielmehr: »Moskito, sammele du die Palmnüsse! Ich will sie dafür heimtragen.«

Der Moskito stieg herab und sammelte die Palmnüsse in ein Gefäß. Dann sprach er zum Ohrenschmalz: »Komm, trage sie nun auf dem Kopfe heim!« Das Ohrenschmalz sagte wieder: »Trage du sie nur selbst, ich werde sie dir vom Kopfe nehmen, wenn wir heimkommen.«

[252] Als sie nun nach Hause kamen, sagte der Moskito: »Ohrenschmalz, komm und nimm sie mir ab!« Das Ohrenschmalz erwiderte aber: »Wirf sie nur allein hinab, ich werde sie schon nachher zusammenlesen.«

Der Moskito warf die Palmnüsse so kräftig hinab, daß sie weithin verstreut wurden, und sagte: »Sammle nun die Palmnüsse!« Doch das Ohrenschmalz war wieder faul und entgegnete: »Sammle nur die Palmnüsse allein. Ich werde sie aber kochen.«

Der Moskito tat es und verlangte, daß das Ohrenschmalz sie koche. Das Ohrenschmalz aber erwiderte: »Koche du selbst die Palmnüsse. Ich werde sie stampfen, daß das Öl herauskommt.«

Als nun die Palmnüsse fertig gekocht waren, wollte sie das Ohrenschmalz nicht stampfen. Es sprach: »Ich werde mich schön hüten, die Palmnüsse zu stampfen. Tue du das nur selbst, ich will aber das Palmöl in der Faktorei dem weißen Kaufmann verkaufen.«

Der Moskito antwortete: »Meinetwegen faulenze auch diesmal.« Als nun aber der Moskito mit dem Entölen fertig war, da nahm das Ohrenschmalz sofort das Palmöl, um es zu verkaufen.

Der weiße Kaufmann gab ihm 10 Faden (das sind 20 Meter) Tuch dafür. Das Ohrenschmalz kam nun zurück, doch wollte es dem Moskito, der die ganze Arbeit getan hatte, nichts abgeben. Es schlüpfte schnell ins Ohr hinein. Der Moskito verfolgte es und rief: »Mein lieber Freund, du hast nichts von der ganzen Arbeit getan. Du bist nur zur Faktorei zum Verkaufen gegangen, und jetzt machst du es so? Warte nur, dich Betrüger will ich schon fassen!«

Der Moskito wollte nun auch schnell ins Ohr schlüpfen und rief: »O! O!« Da fürchtete sich das Ohrenschmalz und rief die Hand zur Hilfe. Diese jagte den Moskito fort und blieb beim Ohr; denn sie wollte nicht, daß der Moskito ins Ohr schlüpfe und seine Tücher hole.

So ist es noch heute. Wenn ein Mensch in Kamerun einschlafen will, so kommt der Moskito und will ins Ohr. Die Hand verjagt ihn, aber er kommt immer wieder und sticht die Hand, wenn der Mensch eingeschlafen ist.


  • Literatur: Lederbogen, Kameruner Märchen Nr. 3.

12. Sage der Cherokee.


In alten Zeiten konnten die Tiere, Vögel, Fische, Insekten und Pflanzen alle sprechen, und sie lebten mit den Menschen zusammen in Frieden und Freundschaft. Aber mit der Zeit vermehrten sich die Menschen so schnell, daß sich ihre Ansiedlungen über die ganze Welt verbreiteten, und die armen Tiere fingen an, sich eingeengt zu fühlen. Das war schlimm, aber damit war es nicht genug, denn der Mensch erfand auch Bogen, Messer, Schießgewehr, Speere und Angelhaken- und fing an, die größeren Tiere, Vögel und Fische des Fleisches oder der Haut wegen zu schlachten, während die kleineren Geschöpfe, wie Frösche und Würmer, gedankenlos zermalmt und zertreten wurden, aus reiner Achtlosigkeit oder Mutwillen. So beschlossen die Tiere, über Maßregeln für ihre Sicherheit zu beraten.

Die Bären hielten zuerst in ihrem Rathaus eine Versammlung ab, und der alte weiße Bär hatte den Vorsitz. Nachdem einer nach dem andern geklagt hatte, daß der Mensch seine Freunde töte, ihr Fleisch esse und ihre Haut für seine Zwecke verbrauche, beschlossen sie, sofort Krieg mit ihm anzufangen. Einige fragten, was für Waffen der Mensch gebrauche, um sie zu töten. »Pfeil und Bogen natürlich,« riefen alle Bären. »Und wovon werden die gemacht?« war die nächste Frage. »Der[253] Bogen von Holz und die Sehne von unseren Eingeweiden,« erwiderte einer der Bären. Darauf wurde vorgeschlagen, einen Bogen und einige Pfeile zu machen und zu versuchen, oh man nicht dieselben Waffen gegen den Menschen brau chen könne. Ein Bär nahm also ein gutes Stück Akazienholz, und ein anderer opferte sich für das allgemeine Wohl, um ein Stück seiner Eingeweide für die Sehne zu liefern. Aber als alles fertig war und der erste Bär zum Versuch hintrat, stellte sich ein großes Übel heraus. Wenn er nämlich den Bogen zurückgezogen hatte und den Pfeil fliegen ließ, verfingen sich dabei seine langen Krallen in der Sehne und verdarben den Schuß. Das war ärgerlich, aber einige rieten, man solle seine Krallen beschneiden. So geschah es, und bei dem zweiten Versuch sah man, daß der Pfeil sein Ziel traf. Aber der Häuptling, der alte weiße Bär, sagte, sie müßten lange Krallen haben, um auf die Bäume klettern zu können. »Einer von uns ist schon gestorben, um uns die Bogensehne zu geben, und wenn wir jetzt unsere Krallen abschneiden, müssen wir alle umkommen. Besser wird es sein, den Zähnen und den Klauen, die die Natur uns gab, zu vertrauen, denn es ist offenbar, daß die Waffen des Menschen nicht für uns bestimmt sind.«

Da niemand etwas Besseres wußte, so entließ der alte Häuptling die Versammlung, und die Bären zerstreuten sich in Wald und Dickicht ohne ein Mittel gegen die Vermehrung des Menschengeschlechts erdacht zu haben. Wenn die Beratung anders verlaufen wäre, würden wir jetzt Krieg mit den Bären haben, aber so bittet der Jäger den Bären nicht einmal um Entschuldigung, wenn er ihn tötet.

Am nächsten Tag hielt alles Wild Beratung unter seinem Häuptling, dem kleinen Hirsch, und sie beschlossen, daß sie jedem Jäger Rheumatismus geben würden, der Wild töte, ohne für die Beleidigung um Verzeihung gebeten zu haben. Sie schickten diesen Bescheid zur nächsten Indianeransiedlung und sagten ihnen, was sie tun müßten, wenn die Not sie zwänge, einen vom Stamme des Wildes zu schießen. Wenn der Jäger jetzt solch ein Tier schießt, so läuft der kleine Hirsch, der so schnell wie der Wind ist und nicht verwundet werden kann, schnell an den Ort, beugt sich über die Blutflecken und fragt den Geist des Tieres, ob es den Jäger hat um Verzeihung bitten hören. Wenn er: »Ja« antwortet, ist es gut, und der kleine Hirsch geht seines Weges, aber wenn »Nein« geantwortet wird, folgt er den Spuren des Jägers, indem er nach den Blutstropfen auf der Erde riecht, bis zu seiner Hütte in der Ansiedlung. Dann tritt der kleine Hirsch unsichtbar ein und schlägt den Jäger mit Rheumatismus, so daß er zum hilflosen Krüppel wird. Kein Jäger, der auf seine Gesundheit achtet, wird es je unterlassen, das Wild, das er tötet, um Verzeihung zu bitten, wenn auch einige Jäger, die die Bittform nicht gelernt haben, den kleinen Hirsch von der Verfolgung abbringen können, indem sie hinter sich in der Spur ein Feuer anzünden.

Nun kamen die Fische und Reptilien, die ihre besonderen Klagen gegen den Menschen erhoben. Sie berieten zusammen und beschlossen, ihre Opfer von Schlangen träumen zu lassen, die sie in schleimiger Umarmung halten, und ihnen üblen Atem ins Gesicht zu blasen, oder sie träumen zu lassen, daß sie rohen oder verfaulten Fisch äßen, so daß sie die Lust am Essen verlören, krank würden und stürben. Daher träumen die Menschen von Schlangen und Fischen.

Zuletzt kamen die Vögel, Insekten und kleineren Tiere zu demselben Zweck zusammen, und die Raupe war Oberhaupt der Versammlung. Es wurde beschlossen, daß einer nach dem andern seine Meinung sagen sollte, und daß sie dann abstimmen wollten, ob der Mensch schuldig oder nicht schuldig sei. Sieben Stimmen sollten genug sein, um ihn zu verdammen. Einer nach dem andern klagte über des[254] Menschen Grausamkeit und Ungerechtigkeit gegen die Tiere und stimmte für seinen Tod. Der Frosch sprach zuerst und sagte: »Wir müssen etwas tun, um die Vermehrung der Menschen zu hindern, sonst werden sie so zahlreich, daß wir von der Erde verdrängt werden. Seht, wie sie mich gestoßen haben, bis mein Rücken mit Wunden bedeckt war, weil ich häßlich sei, wie sie sagen«, und dabei zeigte er die Flecken auf seiner Haut. Dann kam ein Vogel – niemand weiß mehr, wer es war – der verdammte den Menschen, »weil er seine Füße abbrenne.« Damit meinte er die Art, in der die Jäger Vögel braten. Sie spießen sie auf einen Stock, und den tun sie über das Feuer, so daß die Federn und kleinen Füßchen abgesengt werden. Dann kamen andere, die redeten ähnlich. Das kleine Erd-Eichhörnchen (ground-squirrel) allein wagte es, ein gutes Wort für den Menschen einzulegen, der ihm selten etwas zuleide tut, weil es so klein ist, aber da wurden die anderen so böse, daß sie über das Eichhörnchen herfielen und ihm mit den Krallen jene Streifen auf den Rücken rissen, die es bis heute noch hat.

Dann erfanden und nannten sie so viele Krankheiten: wenn ihre Erfindungsgabe sie nicht zuletzt im Stich gelassen hätte, so würde keiner des Menschengeschlechtes lebend geblieben sein. Die Raupe freute sich immermehr, wenn eins nach dem andern die Namen der Krankheiten nannte, bis sie dann am Ende waren. Da schlug noch je mand vor, daß man die Menstruation manchmal tödlich für die Frauen machen sollte. Da stand sie von ihrem Platz auf und rief: »Schön! Ich freue mich, daß noch ein paar von ihnen sterben, denn es gibt jetzt so viele, daß sie auf mich treten.« Der Gedanke machte sie so vor Freude zittern, daß sie auf den Rücken fiel und nicht wieder in die Höhe kommen konnte, sondern sich auf dem Erdboden fortschlängeln mußte. Und anders können sich die Raupen seitdem nicht fortbewegen.

Als die Pflanzen, die dem Menschen freundlich gesinnt waren, von den Verhandlungen der Tiere hörten, beschlossen sie, deren böse Absichten zu bekämpfen. Bäume und' Sträucher, die Kräuter sogar bis herab zum Gras und Moos sagten: »Wir werden dem Menschen helfen, wenn er uns in der Not anruft.« So entstand die Medizin; und die Pflanzen, deren jede einen bestimmten Nutzen hat, wenn wir es nur wüßten, liefern uns die Heilmittel, um all das Böse aufzuheben, das die rachsüchtigen Tiere geschaffen. Sogar das Unkraut wurde zu bestimmten Zwecken geschaffen, die wir selbst ausfindig machen müssen.


  • Literatur: Mooney, Myths of the Cherokee, S. 250.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 249-255.
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