I. Ungehorsam beim Graben des Wassers.

[312] 1. Russische Sagen.


a) Nach Erschaffung der Erde befahl Gott allen Vögeln und Vierfüßlern, Behälter für Wasser zu graben. Alle Vögel gehorchten, nur der Milan [milvus] nicht, und zwar aus Furcht, sich seine hübschen [gelben] Beine zu beschmutzen. Für diesen Ungehorsam erlaubte ihm Gott, das Wasser nur von den Blättern der Bäume, wenn sie vom Regen oder Tau naß sind, nicht aber aus Flüssen, Bächen, Pfützen und ähnlichen Wasserbehältern zu trinken. – Dem Milan fällt es schwer, so zu trinken, und nicht immer sind die Blätter feucht, darum dürstet ihn, und immerfort bittet er Gott um Regen.


  • Literatur: Etnogr. Obozrěnie 3, 173. Vgl. 28, 113 (1896): er schreit picj, picj (trinken!). Weißrussisch.

b) Die russischen Landleute erzählen von einem Vöglein, daß in der trockenen Zeit überall umherfliegt und kläglich zwitschert: »pipi-pitj (trinken)!« Als Gott die Erde erschaffen hatte und sie mit Meeren, Seen und Flüssen anzufüllen gedachte, da ließ er einen starken Regen niedergehen; darnach versammelte er alle Vögel und befahl ihnen, ihm bei seiner Arbeit zu helfen: sie sollten für ihn an bestimmte Stellen Wasser tragen. Alle Vögel gehorchten, nur jener unglückliche nicht; er sagte zu Gott: »Ich brauche weder See noch Fluß, ich trinke mich schon an einem Schilfrohr satt.« Da erzürnte Gott und verbot ihm und seinen Nachkommen, auch nur in die Nähe eines Sees, Flusses oder Bächleins zu gehen, nur mit dem Wasser dürfe er seinen Durst löschen, das nach einem Regen in Bodenvertiefungen oder zwischen Steinen übrig bleibe. Seit der Zeit läßt das Vöglein den Menschen zum Überdruß seine klägliche Bitte hören: pitj, pitj!


  • Literatur: Afanasjev, nar. russk. leg. (1859), S. XII = Tereščenko, byt russkago naroda 5, 47 == Ralston, Russian Folk Tales S. 331.

c) Andere Vögel gingen alle, Quellen zu graben, daß sie Wasser zu trinken hätten. Nur der Milan wollte es nicht tun, um sich den gelben Schnabel (?) nicht zu beschmutzen. Daher geben ihm jetzt die Vögel kein Wasser zu trinken; er muß pfeifend um Regen bitten.


  • Literatur: Zapiski naukovogo tovar. ime Ševčenka 54 (Kleinrussisch).

2. Sage der galizischen Rutenen.


Die Weihe ist von Gott verflucht. Einst gab es nach Erschaffung der Welt keine Flüsse wie jetzt, sondern das Wasser stand hier und dort in großen Seen und Tümpeln. Deshalb befahl Gott, die Vögel sollten Flußbetten graben. Alle Vögel machten sich an die Arbeit, nur die Weihe ge horchte nicht, sondern sagte: »Ich werde mir die Stiefelchen beschmutzen!« Da gebot ihm Gott, niemals Wasser aus Flüssen zu trinken, sondern nur aus Tümpeln und Pfützen. Im Sommer, wenn alle Tümpel austrocknen, hat die Weihe nirgends Wasser zu trinken und fliegt deshalb hoch auf zum Himmel und bittet Gott um Regen.


  • Literatur: Etnogr. Zbirnyk 12, 28.

[312] 3. Mingrelische Sage (Kaukasus).


Im Monat Juli schwebt der Milan (Weihe) während eines großen Teils des Tages in den Lüften, beschreibt in der Höhe Kreise und stößt dabei sonderbar klagende Schreie aus. Das erklärt man aber auf folgende Weise.

Der Milan hatte drei Kinder, die, als sie reif waren, ein selbständiges Leben zu führen, ihre Mutter und Erzieherin überfielen und sie erdrosseln wollten. Da wandte sie sich an Gott mit der Bitte, ihren Kindern den gebührenden Lohn zu geben, und der Allmächtige verbot den Milanen, im Juli Wasser zu trinken. Darnach aber scheint dem Milan während der angegebenen Zeit jedes Wasser blutig, mit Ausnahme desjenigen, das sich in Höhlungen der Baumstämme ansammelt, und dieses darf er trinken zu jeder Zeit.


  • Literatur: Sborn. mater. 32, 3, 119 f.

4. Slovakische Sage.


Die Vögel kamen einmal überein, daß sie alle zusam men die Quellen reinigen wollten. Die Weihe allein unterließ es zu tun. Seitdem ist ihr zur Strafe nicht erlaubt, aus Quellen oder den daraus fließenden Bächen zu trinken. Sie muß also den Regen abwarten, wenn sie trinken will.


  • Literatur: Záturecký, Slovenské přísloví S. 26 Anm.

5. Böhmische Sagen.


a) Die Weihe (falco milvus [káně]) darf nach dem čechischen Volksglauben aus keinem Brunnen trinken, sondern nur aus Pfützen, die nach einem Regen in den Gruben des Felsens stehen bleiben. Daher wird sie in trockenen Sommern viel vom Durst geplagt und fliegt gegen den Himmel und ruft: »pít, pít, pít« (trinken, trinken, trinken), damit Gott es regnen lasse.


  • Literatur: Grohmann, Abergl. u. Gebr. Nr. 460 = Krolmus 1, 255.

[b) Die Gabelweihe (Milan, Königsweih) wird oft verfolgt. Denn von ihr sagt die Legende, daß sie Gott kein Wasser geben wollte, als er auf Erden wandelte und vor Durst schmachtete. Davon zeugt auch noch das Sprichwort: Er lechzt wie die Weihe nach Regen.]


  • Literatur: Schacherl, Geheimnisse der Böhmerwäldler S. 4.

6. Wendische Sage.


Die Vögel gruben einmal ein Flußbett mit ihren Schnäbeln aus, damit Wasser hineinkommen sollte. Aber die Weihe wollte nicht dabei helfen. Darum darf sie kein Flußwasser mehr trinken. Wenn jetzt etliche Tage kein Regen kommt und die Weihe durstig ist, so schreit sie sehr und wälzt sich in der Luft herum. Dann kommt bald Regen, und nun erst darf sie trinken.


  • Literatur: W.v. Schulenburg, Wendische Volkssagen und Gebr. aus dem Spreewald S. 80.

7. Aus Steiermark.


Des Göosvogels (picus virid. L.) Ruf verkündet Regen. Daher sagt auch mancher, der ihn rufen hört, der Grünspecht sei schon wieder durstig. Der Ruf lautet: Göos, göos, göos, göos, göos und bedeutet auch hohen Wasserstand.


  • Literatur: Baumgarten 1, 102.

8. Aus Siebenbürgen.


Die Dohle allein weigert sich, an der Reinigung der Quellen sich zu beteiligen.

[313] Deshalb verflucht sie Gott, sie solle nirgendher trinken können als vom herabfallenden Regen.


  • Literatur: Müller, Siebenbürgische Sagen, 2. Aufl. S. 200.

9. Polnische Sagen.


a) Als alle Vögel mit Teichgraben beschäftigt waren, tun Wasser zum Trinken zu haben, wollte der Milan (Gabel-, Königsweihe) an der gemeinsamen Arbeit nicht teilnehmen. Seitdem darf er kein anderes Wasser trinken, als was nach dem Regen auf dem Stein zurückbleibt, und er ruft durstig: »piiić (trinken!)«. Aber andere Vögel antworten: »Nie robiłaś koło stawn niiić« (du hast am Teiche nichts gearbeitet).


  • Literatur: Zbiór wiad. do antrop. kraj. 11, 3. Abt., 43. Vgl. Zbiór 5, 3. Abt. 24, 134. (Der Milan muß während des Regens den Schnabel öffnen und warten, bis es ihm hineinregnet.) Zbiór 7, 114, Nr. 22. (Der Milan beschmutzt eine Quelle, während die andern Vögel arbeiten. Seitdem darf er nur von den Gipfeln der Berge und dem Laube der Bäume trinken.)

b) Als der Herr einmal allen Vögeln befahl, Gräben für Flüsse und Teiche zu graben, antworteten der Milan und der Habicht, daß sie sich nicht die Kleider beschmutzen wollten. Gott gebot ihnen, nur von dem Wasser zu trinken, das sich auf Felsgipfeln und Baumblättern befindet. Bei anhaltender Trockenheit fliegen beide Vögel beständig in großer Qual und bitten Gott um einen Tropfen Regen.


  • Literatur: Zbiór wiad. 7, 113 Nr. 21.

c) (Gegenstück zu dem gehorsamweigernden Vogel.)

Als der Herr am Anfange der Welt alle Vögel zusammentrieb, damit sie die Wälder rodeten, verrichtete der Storch sein Werk am eifrigsten. Als er einen besonders großen Strauch aus dem Sumpfe zog, beschmutzte er sich die Hälfte der Flügel. Zum Andenken an diesen Eifer behielt der Storch auf immer diese schwarze Hälfte.


  • Literatur: Zbiór 7, 111, Nr. 15. – Weitere Varianten: Zbiór 14, 3, S. 202; 15, 3, S. 266, Nr. 10.

10. Lettische Sagen.


a) Als alle Vögel Flüsse gruben, wollte allein der Milan nicht an die Arbeit und versicherte, daß er vollständig genug habe mit dem Wasser auf den Blättern und Steinen. Gott der Herr geriet in Zorn darüber und verbot dem Milan, aus Flüssen zu trinken; darum schreit er jetzt immer: »Dziert', Dziert'!« (Trinken, trinken!) Denn um zu trinken, muß er jetzt immer warten, bis vom Himmel Regen fällt.


  • Literatur: Živaja Starina 5, 439 (aus Ulanowska 1, 86).

b) Als Gott die Erde schuf, war noch überall Wasser darauf. Gott befahl nun allen Vögeln und Tieren, die Düna und andere Flüsse und Seen zu graben, damit das Wasser abfließe und zum Trinken rein werde Da sagte der Geier (litus putuinis): »Warum soll ich so schwer arbeiten? Mir genügt Tau zu trinken.« Gott hörte das und sagte: »So soll es sein!« Darum trinkt noch jetzt der Geier nur Tau, doch wenn es lange Zeit nicht regnet, so ruft er traurig, daß der Tau komme: »pil, pil, pil!« (d.h. Tropfen). Anderes Wasser darf er nicht trinken, das wäre sein Tod.


  • Literatur: Treuland, Lotyšskija skazki: Sbornik malo po etnografii Moskoa 2, 41 Nr. 37.

c) (Dunkle Erinnerung an den Vorgang beim Graben und Einmengung eines zoologischen Aberglaubens.) Als die Tiere erschaffen waren, hatte der Rabe den[314] Schöpfer durch irgend etwas erzürnt. Der Herr legte ihm daher folgende Strafe auf: alle Vögel würden ihre Kinder im Sommer ausbrüten, nur der Rabe die seinigen im Winter. Wenn die Nestlinge eine Woche alt wären, so müsse der Rabe am Morgen des Karfreitags soviel Meerwasser bringen, daß seine Kinder genug zu trinken hätten. Wenn jedoch zufällig das Meer vollständig zugefroren wäre und der Rabe kein Wasser erlangen könnte, so müßten seine Kinder Dohlen bleiben.


  • Literatur: Živaja Starina 5, 437 = Lerchis Puschkaitis 3, Nr. 63. Vgl. ebd. 5, 439 = Ulanowska 1, 88: Wenn die Krähe ihre Eier nicht bis zum Gründonnerstag ausbrütet, so werden aus ihren Nestlingen Möven, die nicht zu krächzen verstehen und auch viel kleiner sind.

d) Als der Herrgott den Tieren befohlen hatte, Flüsse zu graben, erschienen alle auf seinen Befehl. Es war auch der Krebs gekommen, aber Gott wollte sich einen Scherz machen, gab sich den Anschein, als sehe er ihn nicht, und sagte: »Wo steckt denn der Krebs? Warum ist er nicht an der Arbeit zu sehen?« Der Krebs geriet in furchtbare Wut. »Was soll das heißen?« fragte er, »hast du denn deine Augen hinten, daß du mich nicht sehen kannst?« – Für diese Frechheit strafte ihn der Herrgott, daß er jetzt selbst die Augen hinten hat.


  • Literatur: Živaja Starina 5, 438 (aus Ulanowska 1, 89) = Zbiór 15, 269 Nr. 23 (Letten im poln. Livland).

11. Estnische Sagen.


a) Als Altvater den Embach graben ließ, kamen alle Tiere und Vögel zu der Arbeit, nur der Pfingstvogel (piho) wollte sein schönes wachsgelbes Kleid nicht schmutzig machen und kam nicht. Zur Strafe für seine Faulheit und Eitelkeit darf er nur Tau und Regenwasser trinken; will er aus einem Fluß oder Teich trinken, so muß er ertrinken. – Wenn der Himmel sich bewölkt und es schon lange dürr und trocken gewesen ist, so schreit der Pfingstvogel: »Krää! krää!« und singt dazwischen: »Pihhu ihhu, ilus ihhu«, d.h. »Pfingstvogels Körper – schöner Körper«, um dann wieder sein »Krää!« zu rufen. Da sagen die Leute: »Der Pfingstvogel schreit um Regen.« (Wastse Antslar.)


b) Einst versammelten sich alle Vögel des Waldes und beschlossen, mit vereinten Kräften einen Bach zu graben, daraus sie trinken könnten. Nur der Regenpfeifer (auch Mäusebussard) beteiligte sich nicht an der Arbeit, sondern sagte, er finde auf den Blättern genügend Trinkwasser. Die anderen gingen an die Arbeit. Der Hase steckte die Linie ab, danach gegraben werden sollte, und weil er so viel hin und hersprang nach Hasenart, so ist der Bach ebenso geworden.


Wenn es lange nicht geregnet hat und die Blätter der Bäume trocken sind, hört man den Regenpfeifer kläglich rufen.

Er hat Durst und sehnt sich nach Regen. (Sangaste.)

c) Als die Welt erschaffen war und das Wasser noch fehlte, daraus die Vögel, die Menschen und Tiere hätten trinken können, kamen alle zu einer Beratung zusammen und beschlossen, einen Fluß zu graben, daraus jeder unentgeltlich trinken könnte. Der Hase bezeichnete die Richtung, sprang viel hin und her, und der Lauf des Flusses wurde ein ebenso unbeständiger. Als alle beseelten Geschöpfe eifrig bei der Arbeit waren, kam Gott. Er bemerkte den Krebs nicht und fragte nach ihm (wie in anderen Geschichten). Der Regenpfeifer war auch nicht bei der Arbeit, sondern flog über den Arbeitern in der Luft müßig hin und her. Deshalb trinkt der Regenpfeifer nicht aus dem Fluß, sondern von den Blättern der Bäume.[315] Wenn es längere Zeit nicht geregnet hat, hört man den Regenpfeifer kläglich rufen, denn er hat Durst und sehnt sich nach Regen. (Gouv. Samara, Dorf Estonka.)


d) Das Estenvolk nennt den Pirol wihma kass, d.h. Regenkatze. Dieser Vogel hat die Eigenart, nur dann zu schreien, wenn lange kein Regen gewesen ist. Von diesem Vogel heißt es:

Als Gott die Welt schuf, da gab es zuerst keine Flüsse, und die Erde war mit Wasser bedeckt. Gott gab allen Tieren den Befehl, Flüsse zu machen, damit sich das Wasser verlaufe. Alle Tiere, außer dem Pirol, machten sich an die Arbeit. Als Gott fragte, warum er nicht arbeite, sagt der Pirol: »Ich beschmutze meine schönen Federn bei dieser Arbeit.« Gott sagte: »Weil du dich an der Arbeit der übrigen nicht beteiligst, so soll sie dir auch keinen Nutzen bringen. Nur die Feuchtigkeit auf den Blättern der Bäume soll deine Zunge laben.« So ist es auch. Wenn Regen oder Tau ist, so ruft der Pirol nicht. Aber wenn heiße Tage und stürmische Nächte sind, so daß kein Tau ist, so hört man den Pirol klagen: »wibu, wibu, wibu (Wasser)!« Der Pirol bittet um Wasser. (Gouv. Twer.)


e) Als alle Tiere Flüsse auf Gottes Befehl graben mußten, ging die Nachtschwalbe nicht graben. Sie flog auf eine niedrige, im Sumpfboden gewachsene Fichte mit hellerer Rinde, von wo aus sie die Arbeit der anderen beobachtete. Wie die Flüsse fertig waren, strafte sie Gott für ihre Faulheit dadurch, daß er ihr verbot, aus dem Flusse zu trinken.

Der Knecht der Nachtschwalbe, der Pirol, war ebenfalls nicht beim Graben der Flüsse, deswegen traf ihn dieselbe Strafe. (St. Marien, Dorpat.)


f) Vor Zeiten ließ Gott einen See graben. Alle Tiere mußten mithelfen. Als Gott die Arbeit besichtigen kam, vermißte er die Kronschnepfe (auch Brachvogel), und zur Strafe hat Gott ihn jetzt so geschaffen, daß er nicht aus dem See trinken kann, obgleich er ein Wasservogel ist, sondern von Regenwasser den Durst stillen muß. (Tarwast.)


  • Literatur: a-f: Aus dem hdschr. Nachlaß von J. Hurt.

g) Der Rabe, auch walge lind (weißer Vogel) genannt, war wirklich weiß geschaffen, und erst später, weil er Aas gefressen (Bd. 1, 64. 86. 283), oder nach anderen, weil er, um sich nicht zu beschmutzen, nicht mithelfen wollte, als Gott die Flüsse ausgrub, bekam er zur Strafe ein schwarzes Kleid, indem er von dem Allvater in eine Teertonne gesteckt wurde, während die Elster nur einige Schläge mit der eisernen Rute erhielt. Er hat nur noch eine einzige weiße Feder im Flügel, die er aber sorgfältig verbirgt, und, wenn er geschossen wird, wegwirft oder abnagt. Wer sie bekommen kann, erlangt damit »höik mā ilma tarkus« (aller Welt Weisheit), und was er damit schreibt, hat die Kraft, alle zu überzeugen.


  • Literatur: Wiedemann, Aus dein inneren und äußeren Leben der Ehsten S. 453.

h) Gott der Herr versammelte alle Tiere und befahl ihnen, den Embach (bei Dorpat) zu graben. Alle gingen ans Werk. Hase und Fuchs maßen die Richtung des Flusses ab. Der Hase sprang voran, der Fuchs lief ihm nach, und sein schleppender Schweif bezeichnete den Lauf des entstehenden Embachs. Der Maulwurf zog die erste Furche, der Dachs arbeitete in der Tiefe, der Wolf scharrte, der Bär trug das Aufgescharrte weg, und auch die Schwalbe und die übrigen Vögel alle waren tätig. Als das Flußbett fertig war, kam Gott, um es anzusehen und das Wasser hineinzutun. Er war mit allem zufrieden, lobte jeden Arbeiter und sagte: »Maulwurf und Bär, ihr scheint ja am fleißigsten gearbeitet zu haben, so daß ihr[316] über und über schmutzig seid. Gut, dieses schwarze Kleid bleibe euch zum Andenken als Ehrenkleid. Du Wolf, hast mit Schnauze und Füßen scharf gearbeitet, du sollst auch eine schwarze Schnauze und schwarze Füße behalten. Aber wo ist der Krebs? Er ist doch sonst ein rühriger Mann und hat viele Hände; er wird doch nicht geschlafen haben?«

Der Krebs war soeben aus dem Schlamme hervorgekrochen und ärgerte sich, daß der Herr ihn übersah. Er rief in seinem Unmute: »Alter, wo sind deine Augen, daß du mich nicht sahst? Du hast sie wohl hinten!«

»O du Vorwitziger!« war die Antwort, »so sollst du von nun an deine Augen hinten haben.« [Vgl. ob. S. 179.]

Als der liebe Gott mit diesem Strafexempel fertig war, sah er einen Stutzer, der von Ast zu Ast flog, sein schönes Kleid in der Sonne erglänzen ließ und sein sorgenloses Lied sang.

»Stutzer, Pfingstvogel!« rief er ihm zu, »hast du sonst nichts zu tun, als dich zu zieren?«

»Alter,« sagte jener, »die Arbeit ist schmutzig, und ich kann meinen goldgelben Rock nicht preisgeben und meine silberfarbigen Hosen nicht schwarz machen – was würdest du selbst dazu sagen?«

»Du Kleidernarr!« rief der Herr, »so sollst du von nun an schwarze Hosen haben und sollst zur Strafe nie deinen Durst aus dem Bache löschen, sondern nur die Tröpfchen von den Blättern mühsam trinken, und sollst dein lustiges Lied nur pfeifen, wenn die anderen Geschöpfe sich verkriechen und vor dem herannahenden Wetter schaudern.«


  • Literatur: H. Kletke, Märchensaal 2 (1845), S. 55 f. (nach Fählmann, Dorpater Verhdl. 1, 42). Vgl. Grimm, Mythologie 4, 562.

i) In alter Zeit waren die Wälder und Wiesen ganz unter Wasser, so daß die Tiere beschwerlich zu gehen und sich ihr Futter zu schaffen hatten Sie versammelten sich eines Tages und machten sich auf und gingen zu ihrem König und klagten ihm ihre Not. Der König befahl allen, an die Arbeit zu gehen und einen Graben zu schneiden, damit das Wasser ablaufen könnte. Jedes Tier wählte sich seine Arbeit. Der Bär riß Bäume aus und machte sich ans Graben. Die Hirsche und Elefanten schleppten die aufgeworfene Erde fort. Der Hase bezeichnete die Linie, nach welcher gegraben werden sollte. Und der Krebs war damit beschäftigt, die Ufer auszuhöhlen. Als die Arbeit fast fertig war, wurde der König gerufen, die Arbeit zu besichtigen, ob sie auch gut gemacht sei. Der König fand verschiedene Fehler. Erstens fand er, daß der Lauf des Grabens ganz schief und krumm sei und nicht gerade. Der Hase mußte sich verantworten. Er schob die Schuld auf die, die den Graben gegraben und gereinigt. Zweitens sah der König, daß der Fluß (Graben) nicht gleichmäßig tief sei, sondern stellenweise bald flacher, bald tiefer. Er rief nach dem Krebs, wiederholte Male und ärgerlich. Der Krebs aber war schon herangekrochen und saß auf einer Muschel in der Nähe. Hochmütig sagte er dem König: »Du hast wohl deine Augen hinten, daß du mich nicht siehst?« Er schob alle Schuld auf diejenigen, die den Graben reinigten, sie hätten nicht überall die Erde fortgeschafft, sondern große Haufen zurückgelassen. Auch sei ja der Oberaufseher, der Wolf, dagewesen, warum würde der nicht zur Ver antwortung gezogen; und der Fuchs, der Berichterstatter, hätte doch melden müssen, daß die Arbeiter, die da schleppten, faul seien usw. Der König erzürnte, und zur Strafe setzte er dem Krebs die Augen nach hinten. So unstet, wie der Lauf des Flusses sollte[317] auch das Leben des Hasen fortan sein, und alle, die bei der Arbeit nachlässig gewesen, durften sich dem Fluß nicht nähern.


k) Als es noch keine Flüsse gab, ließ Gott alle Tiere, Vögel und Fische Flüsse graben.

Der Hase gab die Richtung der Flüsse an, der Fuchs mußte mit seinem Schwanz die einzelnen Teile des Flusses ausmessen, der Bär war zum Aufseher bestellt, so hatte ein jedes Tier seine besondere Arbeit.

Gott kam sehen, ob auch alle Tiere fleißig bei der Arbeit wären. Die Schwalbe und der Pirol fehlten. Deshalb erlaubte Gott ihnen nicht, aus einem Fluß oder einer Wasserlache zu trinken, nur von den Blättern der Bäume durften sie den Tau oder den Regen aufpicken.

Diese beiden Vögel sollen, bis heute dieses Verbot nicht übertreten haben.

Auch der Krebs war nicht bei der Arbeit. Gott fragte: »Wo ist der Krebs?« Der Krebs hatte sich in der Nähe unter einem Steine versteckt und rief: »Sind deine Augen hinten, daß du midi nicht sehen kannst!«

Gott sagte: »Weil du mir so geantwortet hast, sollen deine Augen von jetzt an hinten sein.«

Darum hat auch der Krebs die Augen hinten.


l) Gott hatte alle Tiere zum Flüssegraben angestellt, weil sie später aus den Flüssen ihr Trinken bekommen sollten. Die Gänse, Enten und andere Schwimmvögel waren sehr fleißig bei der Arbeit, deswegen erhielten sie die Erlaubnis, auf dem Wasser zu schwimmen.

Jedes Tier hatte eine Arbeit, die seinen Anlagen entsprach.

Der Fuchs gab die Richtung der Flüsse an.

Was nicht das Schwein ausgraben konnte, das tat der Bär mit seiner furchtbaren Kraft, er riß nämlich die Steine und Baumwurzeln heraus.

Das Pferd und der Ochs waren als Aufseher angestellt.

Als der Fluß fertig war, kam Gott nachsehen, ob alle gearbeitet hätten und ob der Fluß ihm gefalle.

Der Fuchs bekam einen Tadel, weil der Fluß zu viele Biegungen hatte. Der Fuchs wurde ausgelacht, deshalb ist er auch blöde und schamhaft geblieben.

»Aber wo ist denn unser alter Bruder Krebs und unser fleißiger Pirol?« fragte Gott. Der Krebs war gerade in seiner Grube, als Gott nach ihm fragte; er trat hinaus und rief frech: »Ich bin ja hier. Hast du die Augen hinten, daß du mich nicht siehst!« Seit der Zeit hat der Krebs selbst die Augen hinten.

Weil der Pirol aber fehlte, deswegen darf er aus keinem Flusse trinken, auch sonst, wo sich Wasser ansammelt, darf er nicht trinken, nur einzig von der Pflanze Sinau (alchemilla) darf der Pirol mit dem Tau den Durst stillen. Wenn diese Pflanze keinen Tau mehr hat und der Pirol durstig ist, so läßt er seinen Klageruf ertönen. Gott erbarmt sich gewöhnlich seiner und schickt dann Regen.


m) Der Frosch, war einer der Fleißigsten beim Graben gewesen und hatte allen Schmutz aus dem Flußbett hinausbefördert, deswegen hat er auch das Recht, ins Wasser zu tauchen und in demselben einen Schlupfwinkel vor seinen Verfolgern zu suchen.

Als Gott seine Arbeiter beim Flusse verließ, gesellte sich auch der Krebs unter die Fleißigen und griff mit an; er hatte früher nicht geholfen. Nach einiger Zeit kam der himmlische Vater wieder, die Arbeit beaufsichtigen. Er erblickte den Krebs und sagte: »Ei sieh, mein Krebs ist auch zur Arbeit gekommen!« – »Hast[318] du denn deine Augen hinten gehabt, daß du mich nicht gesehen hast?« erwiderte der Krebs wichtig, »ich bin ja schon lange hier.« Solch eine freche Antwort ärgerte Gott, und er schuf dem Krebs zur Strafe die Augen nach hinten. Deswegen muß der Krebs rückwärts gehen.


n) Als Gott die Arbeit der Tiere beim Flüssemachen besichtigte, sah er, daß der Bär sehr tüchtig arbeitete. Gott sagte zum Bär: »Du brauchst nicht mehr als ein halbes Jahr zu arbeiten, das andere halbe Jahr kannst du ruhen.« Darum ruht der Bär auch im Winter und hält seinen Winterschlaf. (Gouv. Twer.)


o) Übertragung vom Vogel auf die Anemone. Als alle Vögel und Blumen damit beschäftigt waren, Seen zu graben, um sich Trinkwasser zu verschaffen, ging die Anemone sorglos auf den Wiesen spazieren und kümmerte sich nicht darum, daß die anderen alle im Schweiße ihres Angesichts arbeiteten, um für den Lebensunterhalt (das Trinkwasser) zu sorgen. Leichten Sinnes dachte sie, es sei doch einerlei, ob sie nun auch etwas mithülfe oder nicht; wenn die anderen doch alle schon eifrig arbeiteten, würde man sie nicht vermissen, und es würde doch gewiß auch für sie noch Trinkwasser genug geschaffen werden. Auch wollte sie ihr schönes weißes Kleid nicht beschmutzen und zog es vor, lieber auf der Wiese zu spazieren oder im Tannenwalde zu sitzen.

Als nach Mittag die Vögel und Blumen fast verschmachteten in der Sonnenglut, kam Altvater, um nach ihnen zu sehen und sie bei ihrer schweren Arbeit mit neuer Kraft zu stärken. Da bemerkte er gleich, daß die Anemone fehlte. Er wandte sich an den Aufseher, die Trollblume. Dieser sagte, die Anemone spiele und tändele im Walde und auf der Wiese. Altvater fand sie auf der Wiese und fragte streng, warum sie nicht arbeite. Die Anemone sagte, sie würde ihr schönes Kleid besudeln. Da ward Altvater böse über die Eitle, nannte sie »Üleanne« (= Übermut, Unart) und sagte, sie werde im Sommer, wo alle anderen Blumen sich mit den schönsten Farben schmücken, ihre Schönheit verlieren und immer unansehnlicher werden, und während die anderen noch aus den Flüssen trinken, müsse sie das Zusehen haben. Von da an verliert die Anemone gleich nach dem Frühling ihr schönes Kleid. (Aus Fellin.)


  • Literatur: i-o: Aus dem hdschr. Nachlaß von J. Hurt.

12. Aus Ostpreußen.


a) Von der Gaffelweih sagt man, daß sie zumeist in der Luft bleibt und selten mal zur Erde fliegt. Wenn sie trinken will, muß sie warten, bis es regnet. Sie kann nur aus einem hohlen Stein, in dem sich Wasser gesammelt hat, trinken. Und das ist so gekommen. Als der liebe Gott dazumal den Tieren befahl, für ihn zu arbeiten, hatte die Gaffelweih keine Lust dazu. Sie sagte, sie wolle sich nicht die Stiefel bejuxen; sie hat nämlich solche schönen gelben Füße. Der liebe Gott war darüber nicht wenig erzürnt und verdammte sie wegen ihrer Unverschämtheit. Und nun ist das so geblieben.


  • Literatur: Lemke, Volkst. in Ostpr. 2, 20, Nr. 36.

b) Bald nach der Schöpfung kamen die Vögel des Himmels. zusammen, um sich Brunnen zu graben, daraus sie trinken könnten. Alle Vögel scharrten und gruben fleißig nach dem Wasser, und so entstanden die Brunnen der Tiefe. Die Weihe aber war zu stolz, wollte sich ihre gelben Füße nicht beschmutzen und grub nicht mit; deshalb hat sie auch gelbe Füße behalten, während die anderen Vögel die ihren bei der Arbeit geschwärzt haben. Zur Strafe ihres Stolzes[319] und ihrer Eitelkeit verfluchte aber Gott der Herr die Weihe: sie solle nie aus einem Brunnen, Teiche oder Fluß ihren Durst stillen. Bei anhaltender Dürre hört man daher die durstende Weihe heftig und verlangend nach Regen pfeifen, denn nur mit dem in hohlen Steinen angesammelten Regenwasser darf sie – eine Folge jenes Fluches – ihren Durst löschen.


  • Literatur: Frischbier, S. 285.

c) Als vor langen Jahren die Teiche gegraben werden sollten, ward auch der Grietvogel (kleine Brachvogel, numenius phaeopus) aufgefordert, den Morast ausräumen zu helfen; aber er hatte gar zu große Furcht, sich dabei seine schönen gelben Füßchen zu besudeln, und entzog sich dem Werke. Da bestimmte Gott der Herr, er sollte nun auch bis in Ewigkeit aus keinem Teiche saufen. Deshalb sieht man ihn immer nur aus hohlen Steinen oder Wagenspuren, in denen sich Regenwasser gesammelt hat, mühsam saufen. Wenn nun aber lange kein Regen fällt und sehr trockene Zeit ist, so leidet er jämmerlichen Durst, und man hört ihn ununterbrochen sein klägliches Giet (gieße, regne!) schreien.


  • Literatur: Frischbier, S. 301. Vgl. Reusch, Sagen des preußischen Samlandes, 2. Aufl., 1863, S. 36 = Preuß. Prov.-Bl. 26, 536 = Grimm, Myth.4 561.

13. Aus dem preußischen Samlande.


a) Siehe die vorige Fassung.

b) Als die Vögel sich die Brunnen gruben, aus denen sie trinken wollten, da hatte die Krähe keinen Gefallen an dem Werke, sondern wenn ein Wall rings um den Brunnen von den andern aufgeworfen war, scharrte sie ihn mit den Füßen wieder zurück und hinderte so die Arbeit. Daher darf die Krähe kein Wasser trinken. Oft sieht man sie zwar über dem Wasser flattern, als ob sie trinken wollte, doch alsbald weicht sie wieder scheu zurück. Und so kommt es auch, daß die Krähe selbst in der nächsten Nachbarschaft eines Wassers verdurstet.


  • Literatur: Ebd. S. 37.

14. Aus Hinterpommern.


Als der liebe Gott die Vögel erschaffen hatte, ließ er sie alle zusammenkommen und befahl ihnen, einen Teich zu reinigen, damit sie gutes und klares Trinkwasser hätten. Nur die Weihe weigerte sich, zu helfen, um ihr schönes Gefieder und ihre Füße nicht zu beschmutzen. Dafür aber legte ihr der liebe Gott als Strafe auf, daß sie hinfort nicht mehr aus Bächen und Teichen ihren Durst stillen durfte. Und wenn nun bei einer Dürre alle anderen Vögel den Bächen und Teichen zufliegen, um zu trinken, dann muß die durstige Weihe »Weh! Weh!« schreiend in der Luft kreisen, weil sie in hohlen Bäumen und Steinen kein Wasser findet.


  • Literatur: Otto Knoop, Volkssagen, Erzählungen und Märchen aus dem östl. Hinterpommern. Posen 1885. S. 87 f.

15. Rumänische Sagen.


a) Bei Erschaffung der Flüsse, Quellen und anderen fließenden Wässer befahl Gott den Vögeln, ihm zu helfen. Alle kamen, nur die Königsweihe (milvus re galis) sagte, sie wolle sich ihre Füße nicht schmutzig machen. Zur Strafe bestimmte Gott, daß sie und ihre Nachkommen nur noch Regenwasser trinken sollten; in das andere Wasser tat er etwas Salz, so daß es die anderen Vögel zwar genießen konnten, die Weihe aber nicht. Wenn es nun einmal lange Zeit nicht regnet, kann man die Weihe zum Himmel emporfliegen sehen, um Gott ihre Bitte um Regen vorzubringen.

[320] 1. Var.: In einer Versammlung aller Vögel wurde die Weihe dazu bestimmt, die Flüsse zu graben. Weil sie nicht wollte, traf sie jener Fluch. An ihrer Stelle arbeitete die Schwalbe an der Herstellung der Flüsse.

2. Var.: Für die ungehorsame Weihe ist die Krähe eingetreten. Wenn heute Krähen eine Weihe aus einem Fluß trinken sehen, dann verfolgen sie den vom Fluch getroffenen Vogel und ruhen nicht eher, als bis sie ihn töten.


  • Literatur: Marianu, Ornitologia 1, 165. Vgl. Revue des trad. pop. 8, 43.

b) Nach Erschaffung der Welt berief Gott die Vögel, um sie die Flüsse regulieren zu lassen. Der Bienenfresser (Merops apiaster) wollte sich nicht die Füße schmutzig machen und kam deshalb nicht. Zur Strafe für den Ungehorsam verbot ihm Gott bei Todesstrafe, Flußwasser zu trinken. Wenn nun einmal große Trockenheit herrscht, so sieht man den Bienenfresser sich in die Luft erheben und nach Regen schreien.


  • Literatur: Marianu, Ornitologia 1, 429.

c) Bei einer großen Dürre beschlossen die Vögel, einen Brunnen zu graben. Der Brachvogel aber wollte sich nicht schmutzig machen und sagte, er könne warten, bis es regne. Da verwünschten ihn die anderen Vögel und verboten ihm, jemals aus einer Quelle zutrinken. Seitdem trinken die Brachvögel nur aus Seen, Kanälen, Flüssen und im Fluge Regenwasser. Wenn sie aber aus einer Quelle trinken, sterben sie sofort.


  • Literatur: Marianu, Ornitologia 2, 305.

d) Nachdem Gott den Himmel, die Erde, das Meer und alles, was im Himmel, auf Erden und im Meere sich befindet, erschaffen hat, ist er zur Einsicht gekommen, daß die Menschen und alle Tiere der Erde, um leben zu können, des Wassers bedürfen.

Wohl war Wasser auf Erden, aber nur in den Meeren, und da diese entfernt gelegen und ihre Wässer gesalzen waren, so hatten die Menschen und Tiere davon keinen Nutzen und Genuß. Daher soll Gott beschlossen haben, alle Enden und Winkel der Erde mit süßem und trinkbarem Wasser zu beschenken.

Solch ein Wasser sollte auf Geheiß Gottes sich in Tälern, Ebenen, auf Bergen und in Gebirgen vorfinden, nur verpflichtete Gott die Tiere der Erde, daß sie die Quellen aufdeckten, zu welchem für alle nützlichen Zwecke er alle Tiere zur Hilfeleistung herbeirief.

Auf Befehl Gottes sprangen im Nu alle Tiere der Erde und alle Bewohner der Lüfte herbei.

Während Gott die Arbeiten seiner Geschöpfe überwachte, ließ er seinen Blick auch zwischen den Vögeln schweifen, und siehe, dazwischen fehlte die Eule. Sofort ließ Gott die Eule herbeirufen. Im Nu erschien dieselbe vor dem Schöpfer, und befragt, warum sie beim Aufdecken der Quellen nicht mithelfe, sagte dieselbe: weil sie kein Quellwasser brauche.

Als Gott diese Worte der Eule hörte, womit dieselbe ihre Faulheit verdecken und bemänteln wollte, verfluchte er sie, daß sie in Ewigkeit kein Wasser weder aus den Quellen noch von der Erdoberfläche trinke.

Und seit jener Zeit trinkt die Eule weder Quellenwasser noch aus irgendeiner auf der Erde befindlichen Pfütze, wenn sie auch verdursten sollte. Weil sie aber, so wie jedes andere lebende Wesen, um leben zu können, Wasser braucht, so schreit sie, von einem unsäglichen Durst gequält, während der Sommerdürre, wenn die[321] Leute ihr Heu machen, und bittet Gott um Regen, damit sie von ihrer Durstnot erlöst werde.

Wenn der Romane ihr verzweifeltes Schreien nach Regen hört, so sagt er: »Siehst, jetzt schreist du, warum hast du beim Aufdecken der Quellen nicht helfen wollen!«

Und wenn Gott in seiner Barmherzigkeit regnen läßt, dann hebt die Eule ihren geöffneten Schnabel in die Höhe dem Himmel zu und fängt darin das Regenwasser gierig auf, oder sie trinkt es von ihrem Gefieder weg.


  • Literatur: Zeitschrift für öst. Volksk. 6, 36 (Aus der Bukowina) = Şe zătoarea 5, Nr. 8 = Patria 3, 340.

16. Aus Italien.


Als der Herr im Anfang der Welt die Quellen für alle Tiere und Lebewesen geschaffen hatte, nahm er nur die Raben aus. »Ihr dürft nicht von den Quellen trinken, sondern nur von dem Wasser, das vom Himmel fällt. Das müßt ihr mit dem Schnabel aus der Luft aufschnappen.« Darum stehen, wenn es regnet, diese Tiere mit dem Schnabel nach oben, und sie beobachten das Wetter, ob es Regen gibt. Wenn also der Rabe krächzt, geh heim: bald regnet's.


  • Literatur: Cibele, Zoologia pop. Veneta S. 55.

17. Aus Frankreich.


a) Als der liebe Gott dabei war, das Meer, die Flüsse und Bäche auszugraben, beauftragte er mit dieser Arbeit die Vögel des Himmels, und alle machten sich ans Werk. Aber der Grünspecht war ungezogen und rührte sich nicht von der Stelle. Als nun die Arbeit fertig war, erklärte der liebe Gott, daß der Grünspecht, weil er die Erde nicht aushöhlen wollte, in Ewigkeit das Holz des Waldes aushöhlen solle; und da er nicht hatte helfen wollen, die irdischen Wasserbehälter herzustellen, dürfe er kein anderes Wasser als Regenwasser trinken, das er, so gut er könne, aus der Luft aufschnappen müsse. Daher fleht dieser unglückliche Vogel die Wolken immer um »plui – plui!« (Regen – Regen!) an und befindet sich stets in senkrechter Richtung, um mit seinem offenen Schnabel einen Wasserbehälter zu bilden und die Tropfen, die aus den Wolken fallen, auffangen zu können.


  • Literatur: Rolland, faune populaire 2, 63 (Gironde).

b) Nach den Sagen der Gegenden von Bordeaux und Poitou wurden die Vögel nach der Schöpfung von Gott gerufen, die Müsse und Quellen und, nach der Überlieferung von der Gironde, das Meer zu graben. Sie gingen alle ans Werk, bis auf den Grünspecht. Zur Strafe für seine Faulheit kann er seinen Durst nur löschen, wenn das Wasser vom Himmel fallt, aus welchem Grunde er seinen Schrei hören läßt. Diese Sage ist auch in der Gegend von Saint Malo bekannt.


  • Literatur: Sébillot, Revue des trad. pop. 16, 366.

c) Hört man den Grünspecht schreien, so sagt man: »O, der Faulenzer, er möchte wohl trinken! Warum hat er den Fluß nicht schlämmen wollen?« Man sagt, er könne nur trinken, wenn's regnet.


  • Literatur: Revue des trad. pop. 16, 420. (Von einem aus Bédenac, Charente infér., gebürt. Winzer.)

d) Als die Wasser der Sintflut sich verlaufen hatten, war die Erde so trocken, daß es keinen einzigen Tropfen Wasser darauf gab. Da befahl Gott allen Vögeln,[322] sich nach dem Paradies zu begeben, damit jedes von den Bäumen, die dort wachsen, einen Tropfen Tau nehme und diesen Tropfen an einem bestimmten Orte niederlege. Alle gehorchten, und in einigen Minuten war das Meer geschaffen. Nur der Grünspecht versagte seine Mitwirkung. Zur Strafe erklärte ihm der Herr, daß er fortan nicht trinken solle, bis der Regen zur Erde falle. Deshalb sieht man ihn, wenn ihn der Durst verzehrt und seine Schreie den Regen herbeirufen, die Baumstämme mit seinem Schnabel picken, wo er den Tropfen Wasser zu finden hofft, den er vom Paradies nicht holen wollte.


  • Literatur: Revue des trad. pop. 16, 420- Vgl. Sébillot, Folklore de France 3, 166.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 312-323.
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