Die Garnrollen

[105] Sprach ein altes Weib zu ihrer Tochter, die ins Nachbardorf gehen sollte:

»Verliere vor allem deine Jungfernschaft auf dem Wege nicht!«

»Fürchte nichts, Mutter, ich werd' sie wieder heimbringen.«

Ein junger Mann aber hatte diese Unterhaltung gehört. Er gedachte sie auszunutzen.

Vor dem Dorfe machte er sich an das Mädchen heran und schritt wacker neben ihr her, von diesem und jenem mit ihr plaudernd.

In einem Talgrunde führte die Straße über einen Fluß hin auf einer kleinen, aus einigen Planken gebildeten Brücke.

»Habt Ihr keine Furcht den Fluß zu überschreiten?« fragte der junge Mann. »Mehr denn ein junges Ding, sagt man, hat dort seine Jungfernschaft verloren.«

»Was erzählt Ihr mir da,« rief die Jungfrau erschreckt aus, »was würde Mutter sagen, wenn ich ohne Jungfernschaft wieder nach Hause käme!«

»So haltet sie nur tüchtig fest, wenn Ihr über das Brückchen geht.«

Das Mädchen trippelt zitternd über die Planken.[106] Plötzlich stößt sie einen Schrei aus. »Plumps,« macht ein dicker Stein, den der Bursche ins Wasser geworfen hat.

»Habt Ihr gehört?« fragt das Mädchen.

»Wahrlich hab ich's gesehn. Es war etwas Rundes und Blankes, das Euch zwischen den Beinen hinabglitt und in den Wildbach gefallen ist.«

»Habt Ihr erkannt, was es war?«

»O ja; es war eine schöne Jungfernschaft. Wog gut und gern ihre zwei Pfund!«

Das arme Mädchen setzt sich auf einen Steinblock und hebt an zu schluchzen.

»Ach Gott, was wird meine Mutter sagen. Schlagen wird sie mich! Und nie mehr werde ich heiraten!«

»Nun, meine Schöne, weint nicht so. Wißt Ihr nicht, daß die Weiber zwei Jungfernschaften haben: Die erste habt Ihr verloren, weil Ihr nicht auf mich hörtet. Wollt Ihr die zweite so verwahren, daß Ihr sie nimmer verlieren könnt, und daß Eure Mutter den Verlust der ersten nie gewahr wird?«

»Ob ich's möchte! Aber Ihr macht Euch lustig über mich armes Mädchen!«

»Ich spotte Eurer nicht. Habe gerade einen Faden und die Nadel zur Hand, mit der man Jungfernschaften flickt.«

»Und Ihr wollt mir auch gern die festnähen, die mir bleibt? Was könnte ich Euch für solchen Dienst schenken?«[107]

»Nichts will ich als das Vergnügen, Euch zu Diensten zu sein. Wohlauf, gehen wir in den Wald ... Da, legt Euch auf den Rücken!«

Die Schöne streckt sich aus; der Liebhaber holt seine Nadel hervor und näht die Jungfernschaft fest.

»Ich hatte Angst vor der Nadel,« gesteht die Unschuld, »aber sie hat mir nur ein klein bißchen beim ersten Stiche wehgetan. Jetzt bereitet mir jeder Stich ein Vergnügen, wie ich noch keines gekannt habe!«

Der Bursche lacht wacker in sich hinein und fährt von neuem fort zu werken.

»Aber Ihr macht mich ja naß,« bemerkt die Schöne zwischen zwei Seufzern.

»Laß, Närrchen, ich spuckte ein wenig in die Hand, um das Nähzeug besser halten zu können.«

Und er steht auf. Das war aber nicht nach dem Sinne der Schönen.

»Burschen nähen mit heißer Nadel,« hebt sie an, »das kann nicht haltbar sein. Wollet Ihr nicht noch einige Stiche nähen?«

»Ich will nicht dawider sein und Euch betrüben. Legt Euch also wie vorher hin!«

Die Schleckerin findet Geschmack an der Näherei. Er muß noch ein drittes Mal einfädeln, und als das geschehen, beharrt sie auf noch einem neuen Nadelstich.

»Ach, nein,« schreit der junge Mann auf, der lendenlahm ist; »ich habe keinen Nähfaden mehr.«[108]

»Oh, welch' großer Lügner Ihr seid,« begehrt die Bäuerin auf, mit ihrer Hand des Liebhabers Behenk festhaltend. »Was habe ich hier in der Faust? Die beiden Garnrollen sind noch so dick wie Nüsse!«

Quelle:
[Hansmann, Paul] (Hg.): Schwänke vom Bosporus. Berlin: Hyperionverlag, [1918], S. 105-109.
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