[37] 10. Die neun Vögel.

Einst lebte ein König, welcher eine Tochter hatte, die sehr grausam war. Schon in ihrer Jugend war sie sehr blutdürstig. So schnitt sie z.B. den Vögeln, die sie gefangen hatte, die Zunge oder Füße ab, ließ sie dann fliegen, oder brannte ihnen die Augen aus. Wo sie einem Thiere etwas zu Leide thun konnte, that sie es. Als sie älter wurde, vermehrte sich auch ihre Grausamkeit, und sie wagte es, diese auch an Menschen auszuüben. Sie ließ alle Bettler durch ihre Hunde aus dem Schlosse hetzen, und jemehr sie von den Hunden zerbissen wurden, desto mehr Freude hatte sie.

Als nun ihr Vater gestorben war, kam ein Ritterssohn, um ihre Hand zu erhalten. Sie nahm diesen Antrag an, und der Trauungstag wurde festgesetzt. Als dieser gekommen war, schickte sie den Ritter in einen andern Theil des Schlosses, auf daß er das Brautgeschmeide hole. Um in das bezeichnete Zimmer zu gelangen, mußte er über einen hölzernen Gang gehen, welcher so eingerichtet war, daß, wenn sie an einer Schnur anzog, derjenige, welcher darüber gehen wollte, sammt den Brettern in einen tiefen Brunnen fiel, und darin noch das teuflische Lachen dieses grausamen Weibes hören mußte.

So waren schon neun Jünglinge zu Grunde gegangen, als endlich einer kam, welcher alles dieses schon vorhergesehen hatte, da er ein Schwarzkünstler war. Sie hatte ihm schon ihre Hand zugesichert, und als sie ihn in jenes Zimmer schicken[37] wollte, weigerte er sich und sagte, sie solle das Geschmeide selbst holen.

Sie redete ihm jedoch mit den freundlichsten Worten zu, er möge ihr doch diesen Gefallen thun. Allein zornig erwiederte er: »Glaubst du, ich sollte der zehnte sein, der in dem Brunnen sein Grab findet? Dießmal wird es dir nicht gelingen, denn die Zeit der Vergeltung ist gekommen.«

Über diese Rede erzürnt, befahl sie ihren Knechten ihn zu binden und in den Brunnen zu werfen. Er ließ sich auch willig binden und in den Brunnen werfen, blieb aber auf dem Wasser und lächelte der Fürstin zu, welche in ihrer Wuth Hand und Reich demjenigen zusagte, der ihren Feind töten würde. Da nahmen die Knechte ihre Armbrüste, und es zischten neun Pfeile nach dem Ritter. Die Pfeile aber verwandelten sich während des Fluges in Vögel, welche zwitschernd das Haupt des Ritters umkreisten. »Wärst du nur hier, ich wollte dich schon töten«, sagte sie. Er aber erhob sich sammt den Vögeln aus dem Brunnen, und ehe sich alle recht besinnen konnten, war er in dem nächsten Walde verschwunden.

Dort schrieb er neun Briefe, worin er den Tod der neun Jünglinge schilderte, band jedem Vogel einen solchen an den Hals und ließ sie durch Land und Städte fliegen. Überall ließen sie ihre Briefe lesen und kehrten endlich zur Königstochter selbst zurück und übergaben ihr die Briefe.

Diese zerriß dieselben, rang aber unaufhörlich die Hände und jammerte fortwährend, da ihr Verbrechen nun an den Tag gekommen war. Sie legte auch ihren Schmuck ab, zog ein Trauergewand an und lebte in dem Walde in welchem sich der letzte Ritter sammt den Vögeln niedergelassen hatte, als Einsiedlerin.

Die Vögel kamen täglich zu ihr und sangen die ganze Begebenheit, wie sie in den Briefen geschildert war, sie aber[38] streute ihnen unter Thränen ihr Futter vor die Hütte, und bereute tausendfach ihr Verbrechen. Als dieses nun gebüßt war, verwandelten sich die neun Vögel in Jünglinge, und diese verziehen der Königstochter ihr Verbrechen. Darauf verwandelten sich die neun Jünglinge in Engel und trugen die reuige Büßerin in den Himmel.[39]

Quelle:
Vernaleken, Theodor: Kinder- und Hausmärchen dem Volke treu nacherzählt. 3.Auflage, Wien/Leipzig, 1896 (Nachdruck Hildesheim: Olms, 1980), S. 37-40.
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