[131] 29. Die drei Eier.

Es lebten einmal zwei Schwestern, von denen jede ein kleines Mädchen hatte. Bald starb die eine von ihnen, und die andere mußte das Kind der verstorbenen Schwester zu sich nehmen. Sie war aber selbst arm und hatte kaum Brot und Kleider für sich und ihre Tochter. Deshalb mußte das Mädchen den Unterhalt sauer verdienen und fast alle Arbeiten im Hause verrichten.

Eines Tages gab ihr die Pflegemutter einen Krug, um aus einer benachbarten Quelle Wasser zu holen. Allein das Mädchen zerbrach den Krug; darüber wurde die Pflegemutter sehr zornig, und sagte: »Du darfst nicht wieder zu mir kommen, bis du eine ähnlichen Krug bringst.«

Das Mädchen bat und weinte, allein sie mußte fort. Als sie einige Stunden gegangen war, kam sie zu einem Baume, unter welchem eine Frau mit abgehauenem Kopfe saß. Das Mädchen staunte, aber noch größer war sein Erstaunen, als das Weib fragte, ob sie an ihr etwas Besonderes bemerkte. Das Mädchen sagte: »Nein« und ging weiter.

Bald kam sie wieder zu einem großen Baum, unter dem abermals eine Frau saß, die auch keinen Kopf hatte. Diese stellte an das Mädchen die nämliche Frage. Das Mädchen sagte: »Nein« und ging schnell weiter, denn sie war schon hungrig und durstig.

Da kam sie wieder zu einem Baume, unter dem ein Weib saß, welches aber einen Kopf hatte. Das Mädchen bat die[131] Alte um Brot; diese aber sagte: »Geh in die Hütte, die am Ende des Feldes steht, und iß dort den Reis, welchen du in einem Topfe finden wirst; wenn aber eine schwarze Katze zu dir kommt, so gib ihr auch von dem Reise.«

Das Mädchen ging in die Hütte, fand den Reis und aß, und die Katze bekam auch etwas. Darauf trat das Weib in die Hütte, führte sie in eine Kammer, in der Eier auf einem Tische lagen, und gab ihr die Erlaubnis, drei Eier zu nehmen, aber nur solche, die nicht reden. Dann trug sie dem Mädchen auf, es solle unter jedem Baume, wo früher ein Weib gesessen, ein Ei zerschlagen. Das Mädchen nahm die drei kleinsten Eier, weil sie die einzigen waren, die nicht sprachen, und ging fort.

Bei dem ersten Baume zerschlug sie ein Ei, und es stand ein Wasserkrug vor ihr, der so aussah, wie der zerbrochene. Aus dem zweiten Ei wurde ein Wagen mit Pferden, aus dem dritten ein Kästchen mit Gold. Sie fuhr nun zu ihrer Pflegemutter und brachte ihr den Krug, kaufte sich ein Landhaus und lebte in Frieden für sich allein.

Die Pflegemutter wurmte das und sie schickte nun auch ihre Tochter zu dem Weibe. Als das erste Weib das Mädchen fragte, ob sie etwas Ungewöhnliches sehe, antwortete sie: »Ja, ein Weib ohne Kopf.« Bei dem nächsten Baume antwortete sie dasselbe. Von dem letzten Weibe erhielt auch sie die Erlaubnis, Reis zu essen, aber sie solle auch der schwarzen Katze etwas geben. Allein sie gab der Katze nichts und aß allein. Dann bekam sie die Erlaubnis, die drei Eier zu nehmen, welche nicht reden. Und sie nahm die größten und ging fort.

Dann wollte sie wissen, was in den Eiern enthalten wäre. Sie schlug daher ein Ei auf und fand es leer. Deshalb warf sie das zweite zu Boden, daß es zerbrach; aber siehe da, es kam eine große Schlange hervor. Erschreckt wollte[132] das Mädchen die Flucht ergreifen, da fiel sie zu Boden und das dritte Ei zerbrach. Und es kam aus demselben das Weib ohne Kopf, setzte sich auf die Schlange, die mit Flügeln versehen war, und flog davon. Das Mädchen hatte nun nichts als die zerbrochenen Eier. Das war die Strafe für ihren Ungehorsam und Vorwitz.[133]

Quelle:
Vernaleken, Theodor: Kinder- und Hausmärchen dem Volke treu nacherzählt. 3.Auflage, Wien/Leipzig, 1896 (Nachdruck Hildesheim: Olms, 1980), S. 131-134.
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