[253] 53. Die Erlösung aus dem Zauberschlafe.

Es lebte einmal ein Graf, der sehr reich war. Eines Tages ritt er sammt seiner Frau auf das Feld, um seine Saaten in Augenschein zu nehmen. Alles war zu seiner größten Zufriedenheit schon ziemlich herangewachsen und beide ritten wieder nach Hause. Unterwegs erhob sich ein großer Sturm und trieb dem Grafen den Staub so in die Augen, daß er nichts mehr sah. Zu Hause ließ er den Arzt holen, damit er ihm seine Augen heile, doch der sagte, er könne ihm nicht helfen, da der Staub schon zu tief in die Augen eingedrungen sei. Der Graf hatte drei Söhne, die schon ziemlich groß waren. In sein Schicksal ergeben erfuhr er eines Tages, daß im nächsten Lande sich eine Quelle befinde, die jeden Menschen heile, wenn man sich mit deren Wasser wasche. Als das der älteste Sohn hörte, bat er den Vater um die Erlaubnis, die Quelle zu suchen. Der Vater gab ihm sogleich ein schönes Pferd, füllte seine Tasche mit Geld und entließ ihn mit seinem Segen. Abends gelangte er in einen großen Wald, in welchem sich ein Gasthaus befand, wo ganz schwarze Männer Karte spielten. Sie luden ihn ein mitzuspielen. Er willigte ein, verspielte aber sein ganzes Geld und machte sogar Schulden. Die Schwarzen sperrten ihn ein, und er mußte ihnen dienen. Nach einem halben Jahre machte sich auch der zweite Bruder auf den Weg, und es ging ihm nicht besser wie dem ersten.[253]

Ein Jahr war bereits verflossen und der Vater wartete vergebens auf die Rückkehr der Söhne. Er war darüber traurig, und als der jüngste das bemerkte, bat er um die Erlaubnis, auch fortreisen zu dürfen. Er wurde noch viel besser ausgestattet als die zwei andern. Der Vater sprach den Segen über ihn aus, und dann ritt er fort. Auch er kam in den Wald und in das Gasthaus, in welchem sich seine zwei Brüder aufhielten. Die schwarzen Männer forderten auch ihn auf mitzuspielen; jedoch er ließ sich nicht darauf ein. Er übernachtete dort und machte sich früh Morgens auf den Weg. Als er vor die Thüre kam, sah er eine Menge Leute arbeiten. Sie machten einen Graben rings um das Gasthaus. Schon wolle er fortreiten, als er einen Mann unter den Arbeitenden bemerkte, der ganz seinem ältesten Bruder ähnlich sah. Er sprach ihn an und erkannte in ihm seinen Bruder. Da zahlte er auf Bitten des Bruders die Schulden, und nun durften alle drei fortreisen. Sie ritten drei Tage und Nächte nacheinander ohne zu ruhen, die Lebensmittel, die sie mit hatten, genossen sie auf ihren Pferden. Sie gelangten zu einer Hütte, in der niemand wohnte, und es ward beschlossen, dort einige Tage zu verweilen. Am dritten Tage ging der jüngste allein in den Wald, um zu jagen. Dort erblickte er einen Hirsch, und als er seinen Hahn losdrücken wollte, blieb der Hirsch stehen und redete ihn an, er möge ihn doch nicht schießen, vielleicht könne er ihm einst behilflich sein.

Der Hirsch riß sich ein Haar aus und gab es ihm und sprach: »Wenn du dich in Todesgefahr befindest, so brenne dieses Haar an und ich werde dir zu Hilfe kommen.« Er ging nun weiter und sah einen großen Adler auf einem Baume sitzen, und als er denselben schießen wollte, schrie derselbe und bat, er möchte ihm doch das Leben schenken, er werde ihm einst behilflich sein. Der Graf war ganz erstaunt, denn das war ihm noch nie vorgekommen. Der Adler flog vom Baume herab und brachte ihm in seinen Schnabel eine[254] Feder und sprach: »Wenn du dich einst in Todesgefahr befinden solltest, so brenne diese Feder an und ich werde dir zu Hilfe kommen.« Er ließ den Adler fortfliegen und ging weiter, aber kaum war er zehn Schritte weit, so bemerkte er im Gebüsche ein wildes Schwein. Er erschrak und spannte den Hahn, doch auch dieses fing an zu bitten, er möge ihm das Leben schenken. Das Schwein gab ihm als Zeichen eine Borste und sprach: »Wenn du dich in Gefahr befindest, so brauchst du die Borste nur anzubrennen und ich werde dir zu Hilfe kommen.« – Er kehrte nun wieder zu den Brüdern zurück, sagte ihnen aber nichts von seinen Begegnissen. Sie fragten ihn auch nicht darum, weil sie sich überhaupt sehr wenig um ihn kümmerten und beide sannen, ihm das Leben zu nehmen.

Am nächsten Morgen ritten sie weiter und kamen nach einem Tage zu einem großen Schlosse, neben welchem sich ein großer Garten befand, und in demselben sahen sie eine Quelle. Der älteste wollte in das Schloß hineingehen. Er kam zur Thüre und auf derselben fand er einen Zettel mit der Aufschrift: »Die Quelle in diesem Garten heilt alle Krankheiten.« Er machte die Thür auf und wollte hineingehen, doch er schrak zurück und kehrte um. Seine Brüder fragten ihn, was ihn so erschreckt habe, doch er konnte ihnen keine Antwort geben. Sogleich ging der zweite Bruder zu der Thür und öffnete sie, aber kaum that er einen Schritt weiter, so erschrak er ebenfalls so, daß er niederfiel. – Nun ging auch der dritte zu der Thüre, öffnete sie und ging muthig hinein. Er kam in das erste Zimmer und fand dort eine Menge Soldaten, die alle schliefen. Er schlich sich in das zweite Zimmer, und hier fand er den König auf dem Throne sitzend und die Königin auf einem Sofa liegend und beide schliefen.

Er wagte es nicht, zum Könige näher hinzutreten, und er schlich sich in das dritte Zimmer. Hier sah er eine wunderschöne[255] Prinzessin auf einem Sessel schlafend. Vor ihr stand ein Tisch mit Diamanten besetzt und auf demselben stand ein Körbchen mit Zwirn und Nadeln. Auf ihrem Schoß lag ein Kissen, das noch nicht ganz fertig war, und neben ihr auf einem anderen Sessel befand sich Wolle. Ferner stand noch ein anderer Tisch da, auf dem Papier und Bleistift lagen. Auf der anderen Seite stand ein Tintenfaß von Diamant. Unser Held faßte Muth, setzte sich zu dem Tische, nahm eine Feder und fing an zu schreiben. Er schrieb kurz seine ganze Lebensgeschichte, wessen Sohn er sei, wie und weshalb er hergekommen. Alsdann wollte er sich entfernen, jedoch er bemerkte auf der Wand ein ganz kleines Bild; er nahm es herab und sah, daß es das Bildnis der Prinzessin war. Er trat zu der schlafenden Prinzessin und küßte sie. Dann entfernte er sich eilig. Als er zu seinen Brüdern kam, sagte er, dieses Schloß sei von niemand bewohnt und im Inneren ganz zerstört. Nun wollten sie aus der Quelle Wasser nach Hause nehmen. Der älteste wollte seine Flasche füllen, doch das Wasser verschwand, und als er die Flasche wegzog, kam das Wasser wieder zum Vorschein.

Er versuchte noch einmal zu schöpfen, doch das Wasser verschwand in demselben Augenblicke, als er die Flasche hineinstecken wollte. Er ließ die Flasche jetzt in dem Grübchen liegen und meinte, wenn das Wasser wieder zum Vorschein komme, werde sich die Flasche mit Wasser anfüllen und dann könne er die Flasche geschwind herausnehmen. Doch kaum that er die Hand weg, so schleuderte die heraussprudelnde Quelle die Flasche so hoch in die Luft, daß dieselbe zerbrach. Nun versuchte es der zweite Wasser zu schöpfen, doch es ging ihm gerade so wie dem ersten. Endlich ging der jüngste zu der Quelle, steckte seine Flasche in das Wasser und füllte sie ganz voll an. Die andern Brüder machten ein schiefes Gesicht, und ihre Abneigung gegen ihren Erretter ward noch größer. Sie verabredeten sich heimlich, und als sie in den[256] Wald kamen, wo sie als Sklaven gedient hatten, warfen sie sich beide auf den Bruder und ermordeten ihn. Damit aber keine Spur von dem Morde zu sehen wäre, machten sie ein Feuer und warfen ihn in dasselbe. Dann nahmen sie ihm alles weg und eilten nach Hause. Als aber das Feuer den Bruder so weit verbrannte, daß das geschenkte Haar, die Feder und die Borste angegriffen wurden, erschien sogleich der Hirsch, der Adler und das Schwein. Diese zogen ihn aus dem Feuer, brachten allerlei Salben und Kräuter herbei, und nach einer halben Stunde stand er wieder ganz gesund da. Sie brachten ihm auch ein Kleid; er bedankte sich bei den Thieren und ging fort, jedoch nicht zum Vater, sondern in ein Dorf, um bei einem Bauern zu dienen.

Nach einem Jahre erhielt der Vater einen Brief von der Prinzessin, die mit ihrem ganzen Hofstaat durch den jüngern Sohn erlöset war. Der Brief enthielt die Aufforderung, daß derjenige Sohn zu ihr kommen sollte, der in ihren Zimmern gewesen wäre. Sie hatte zugleich auf den ganzen Weg bis zum Vater Diamanten streuen lassen, indem sie glaubte, durch diese Probe den rechten zu erkennen, denn derjenige werde gewiß die Diamanten nicht verschonen, sondern geradezu darüber hinweg reiten. Zuerst kam der älteste Bruder zu ihr, sie fragte ihn, was er gesehen habe, als er in den Zimmern war, doch dieser konnte es ihr nicht sagen und sie schickte ihn fort. Dasselbe geschah mit dem zweiten. Der Vater schrieb nun, er habe sonst keinen Sohn, der dritte sei tot. Da verlangte sie dessen Leiche, doch der Vater konnte ihr auch diese nicht schicken. Die Sache ward ruchbar und auch unser junger Bauer hörte von der Begebenheit. Er bat sogleich seinen Herrn, bei dem er im Dienste stand, um Erlaubnis, einige Tage fortreisen zu dürfen. Der Bauer erlaubte es ihm. Er ritt sogleich in seiner Bauerntracht geradezu nach dem Schlosse. Er schonte nicht der Diamanten, sondern ritt über alle die Kostbarkeiten hinweg. Er stellte sich ihr vor, und als er die[257] Frage, was er im Zimmer gesehen, beantwortet hatte, begrüßte sie ihn als ihren Erlöser und ihren Gemahl. Bald wurde die Hochzeit gefeiert, wozu auch der Vater und die Brüder eingeladen wurden. Der Sohn erzählte dem Vater von den treulosen Brüdern, und unbarmherzig ließ sie der Vater hinrichten.[258]

Quelle:
Vernaleken, Theodor: Kinder- und Hausmärchen dem Volke treu nacherzählt. 3.Auflage, Wien/Leipzig, 1896 (Nachdruck Hildesheim: Olms, 1980), S. 253-259.
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