[22] 6. Der Hund und die Ammer.

In einem Dorfe wurde einst eine Hochzeit gehalten, bei welcher man gut schmauste. Der Hund des Bräutigams bekam aber nicht das mindeste und litt großen Hunger. Voll Verdruß ging er in den Garten, der zu dem Hause gehörte, legte sich dort nieder und knurrte. Da kam eine wachsgelbe Ammer dahergeflogen, setzte sich auf einen Baum und blickte auf den Hund herab, der eine traurige Miene machte. Als dieß die Ammer bemerkte, flog sie näher zu dem Hunde und fragte ihn, warum er so traurig sei. Der Hund antwortete: »Warum soll ich nicht traurig sein, in unserm Hause ist eine Hochzeit, es wird viel gegessen und getrunken, und ich muß Hunger leiden.« »Mach dir nichts daraus«, sprach die Ammer, »du wirst schon etwas bekommen. Geh jetzt mit mir in's Haus, und wenn wir in das Vorhaus kommen, so werde ich mich auf die Erde niedersetzen, und diejenigen, welche Speisen aus der Küche in die Stube tragen, werden die Speisen niederstellen und mich fangen wollen, und du mußt derweil sehen, wo du dich satt fressen kannst.«

Beide machten sich auf den Weg, und als sie in dem Vorhause waren, setzte sich die Ammer auf die Erde nieder. Zu gleicher Zeit trat der Speisenträger mit dem Braten in der Hand aus der Küche und wollte ihn in die Stube der Hochzeitsgäste tragen. Als er aber den gelben Vogel erblickte, stellte er den Teller mit dem Braten auf die Erde nieder, rief[22] die übrigen herbei und sprach: »Schaut, ein schönes und zahmes Vögelchen, es kann nicht gut fliegen, fangen wir es!«

Und das geschah; sie machten die Stubenthüre auf, trieben die Ammer hinein, machten die Thüre wieder zu, trieben den Vogel hin und her und vergaßen ganz des Bratens.

Das kam dem Hunde sehr gelegen, er fraß sich unterweilen an dem Braten satt und ging wieder in den Garten. Als die Ammer in der Stube glaubte, daß der Hund genug habe, suchte sie eine Gelegenheit, um zu entwischen. Da erinnerte sich der Speisenträger des Bratens, den er im Vorhause niedergestellt hatte; er lief daher aus der Stube, und kaum hatte er die Thüre aufgemacht, so war auch schon die Ammer wieder draußen und flog gerade nach dem Garten hin, wo sie den Hund antraf. »Nun«, sprach sie zu ihm, »nicht wahr, jetzt bist du satt?«

»Ja, satt bin ich«, antwortete der Hund, »aber Durst habe ich noch.« »Durst?« fragte die Ammer, »nun, da weiß ich wieder ein Mittel. Jetzt ist es Mittag«, sprach sie, »und die Mägde in der Meierei melken gerade. Geh mit mir hin und du wirst sicher Gelegenheit finden, wo du dich wirst recht satt trinken können. Wir werden uns nämlich vor die Stallthüre stellen und warten, bis die Mägde die frischgemolkene Milch aus dem Stalle tragen, dann werde ich mich wieder auf die Erde niedersetzen und mich so stellen, als wenn ich nicht fliegen könnte. Die Mägde werden die Gefäße niederstellen und mir nachjagen; dadurch gewinnst du Zeit und kannst dich an der warmen Milch satt saufen.« Das thaten sie auch.

Sie gingen zu dem Meierhofe und blieben bei der Stallthüre stehen. Als nun die Mägde mit der Milch kamen, da hüpfte die Ammer herbei und flog auf ihr Geschrei nicht davon. Das fiel der einen auf, und sie sprach zu den übrigen: »Das Vöglein kann ja nicht fliegen! fangen wir es und geben es dem Schaffner, er wird damit eine große Freude haben.« Und wirklich, sie stellten die Milchtöpfe nieder und jagten[23] dem Vogel nach, der nur immer so weit von ihnen entfernt blieb, um nicht gefangen zu werden. Nachdem der Hund mehrere Töpfe geleert hatte, flog die Ammer in die Höhe, und die Mägde hatten sich umsonst geplagt; sie gingen wieder zu ihren Milchtöpfen und fluchten, als sie einige davon leer fanden.

Der gesättigte Hund schleppte sich nun fort, und die Ammer flog über ihm. Beide begaben sich zu dem nahen Walde, bei welchem eine Straße vorüberführte. Der Hund legte sich in den Schatten eines der Straße nahe stehenden Baumes auf die Erde nieder, und die Ammer setzte sich auf den Gipfel desselben Baumes, sang ihr Lied und fragte mitunter in neckischem Tone den Hund, ob er Hunger habe. Der Hund gab ihr aber keine Antwort.

Nach einer Weile führte auf dieser Straße ein schon bejahrter Mann ein Faß Bier auf einem Schiebkarren. Dieses Bier gehörte zu dem Hochzeitsmahle. Als der Mann den Hund bemerkte, der, seine Füße ausstreckend, sich unter dem Baume wälzte, schlug er auf ihn los, bis er tot war.

Das schmerzte die Ammer sehr, und um sich an dem Manne zu rächen, setzte sie sich auf sein Faß und hüpfte spottend hin und her. Darüber erzürnt, wollte der Mann mit demselben Stocke auch den Vogel erschlagen. Die Ammer war aber geschwinder, flog davon, und der Mann traf so stark auf sein Bierfaß, daß es sogleich zersprang, und das Bier floß in den Weg. Das hatte er für seine Grausamkeit. Damit begnügte sich aber die Ammer nicht; denn sie drohte ihm, daß sie ihm einmal, wenn er ohne Kopfbedeckung aus seiner Stube in's Freie gehe, ein Nest in die Haare flechten wolle. Das erschreckte ihn, und er hütete sich, ohne Mütze die Stube zu verlassen. Einmal traf es sich aber, daß er seine Mütze nicht finden konnte; und da er doch in seinen Garten gehen mußte, so sagte er zu seinem Weibe: »Nimm diesen Stock, geh mit mir, und wann sich der Vogel auf meinen Kopf niedersetzen[24] will, dann schlage ihn tot.« Sein Weib nahm den Stock und ging mit ihm in den Garten. Und schon saß der Vogel auf dem Dache, einen Strohhalm in seinem Schnabel haltend. Als ihn der Mann erblickte, rief er aus: »Weib gib Acht, der Vogel ist schon da.« Auf sein Geschrei hub sein Weib den Stock in die Höhe, damit sie geschwind losschlagen könne. Im Nu flog die Ammer ihm auf den Kopf. Das Weib schlug wüthend auf den Vogel los, traf aber darneben, und der Mann fiel zu Boden.

Die Ammer flog auf und davon.[25]

Quelle:
Vernaleken, Theodor: Kinder- und Hausmärchen dem Volke treu nacherzählt. 3.Auflage, Wien/Leipzig, 1896 (Nachdruck Hildesheim: Olms, 1980), S. 22-26.
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