49
Iskodä
oder der Präriejunge, der Sonne und Mond besuchte

[224] An einem allerliebsten Sommermorgen gingen fünf junge Männer und ein zehnjähriger Knabe namens Iskodä in aller Früh auf die Jagd. Sie hatten schon einen ziemlich bedeutenden Weg hinter sich, als die Sonne plötzlich aufging.

»Wie nahe sie ist«, sagte der älteste von ihnen. »Wahrlich, es muß eine Kleinigkeit sein, sie noch heute zu erreichen, und wenn ihr mich begleiten wollt, so gehe ich hin.«

Damit waren denn auch alle einverstanden; sogar der Kleine mußte mitgenommen werden, weil er drohte, nach Hause zu gehen und es den Eltern zu sagen.[224]

Sie machten sich also auf die Reise und marschierten immer nach einer Richtung, aber sie kamen der Sonne nicht näher. Sie marschierten tagelang und waren am Abend ihrem Ziel geradeso nahe als am Morgen. Zuletzt nahmen sie also ihren Weg mehr nach Waban oder Osten, dem Platz des Lichts, aber da überraschte sie plötzlich der Winter. Sie bauten nun eine Hütte, räucherten den nötigen Vorrat von Fleisch und lebten im allgemeinen recht sorgenlos. Keiner war unzufrieden, und keiner verlor den Mut, sogar dann nicht, nachdem sie noch einige weitere Winter in denselben Verhältnissen verlebt hatten.

Eines Tages kamen sie an einen breiten, nach Osten ziehenden Fluß, dem sie mehrere Tage folgten, bis sie zuletzt an einem großen See standen, der ohne Ufer zu sein schien. Einige tranken daraus, spuckten aber das Wasser gleich wieder aus und riefen: »Schiwitagan-Abo1

Sie standen am Ozean. Während sie so das endlose Wasser betrachteten, kam es ihnen vor, als entstiege die Sonne dem Meer auf der entgegengesetzten Seite. »Faßt Mut«, sagte der älteste, »und läßt uns um den See herumgehen.«

Das taten sie denn auch, aber bald sahen sie sich vor einem breiten Fluß, der ihnen im Weg war. Sie bauten nun eine kleine Hütte und zündeten ein Feuer an, und während sie dabeisaßen und allerlei Pläne hinsichtlich der Weiterreise schmiedeten, fragte einer, ob[225] denn noch niemand von ihnen von der Kunst, wie man auf dem Wasser geht, geträumt habe. Aber er erhielt nur stummes Kopfschütteln zur Antwort.

Am anderen Morgen sagte der Älteste: »Ich habe diese Nacht einen merkwürdigen Traum gehabt: Mein Schutzgeist erschien mir und befahl, südwärts zu wandern; dort würde ich an einen Fluß mit hohen Ufern kommen, in dem eine Insel sei, die mir entgegenkäme.«

Darauf wurde beschlossen, nach Süden zu gehen. Nach kurzer Zeit waren sie an dem besagten Fluß, und eine kleine Insel steuerte langsam auf sie zu. »Das ist ein böser Manitu, der uns verderben will!« riefen einige und wollten sich im Wald verstecken, aber der Anführer beredete sie, daß sie blieben.

Danach kam eine Gestalt von der Insel auf sie zu, die sah aus, als hätte sie Flügel, mit denen sie ständig im Wasser plätscherte, worauf sich alle ängstlich im Dickicht verkrochen, um so aus sicherem Versteck den fremden Ankömmling zu betrachten. Ein Mann erschien und rief ihnen einige Worte zu, aber sie verstanden diese nicht.

Nun lud er die sechs Abenteurer ein, in sein Schiff zu kommen und mit ihm auf die Insel zu fahren, was sie auch nach kurzem Zögern taten. Auf dieser befanden sich eine Menge weißer Leute, deren Chief sie sehr aufmerksam und zuvorkommend behandelte.

Dann mußten sie in ein größeres Schiff steigen, das himmelhohe Segel führte und pfeilschnell dahinschoß. Bald verloren sie das Land aus den Augen, und[226] die schlimme Seekrankheit stellte sich ein, wovon sie jedoch bald wieder genasen.

Während sie so von den mächtigen Wellen hin und her geschleudert wurden, erschien Iskodäs Schutzgeist und teilte ihm mit, daß die weißen Hutleute, auf deren Schiff sie sich befänden, lauter Freunde seien, die sie in ihr Land führen wollten. Auch würde er ihm bald seine Ohren öffnen, daß er sie verstehen könne.

Als sie nun dreißig Sonnenuntergänge auf dem Wasser umhergesegelt waren, schrien die Leute alle auf einmal »Land! Land!« und wechselten ihre Kleider. Kanonen donnerten von allen Seiten, und ein kleineres Schiff fuhr auf sie zu und brachte sie auf festen Boden. Dann nahm sie ein glänzender Wagen auf und fuhr sie in ein silberstrahlendes Zimmer zu einem alten Chief, der sie fragte, woher sie kämen und was eigentlich der Zweck ihrer Reise sei. Sie erzählten ihm alles.

Darauf setzte er ihnen in einer langen Rede die vielen Gefahren ihres Vorhabens auseinander und bat sie, diesen unglücklichen Plan aufzugeben; auch wohne nicht weit von hier ein mächtiger Manitu, der die Gedanken eines jeden Menschen kenne und alles aufbieten werde, sie zu vernichten.

»Vater«, sagte Iskodä darauf, »unser Leben ist von keinem so großen Wert, als daß wir es nicht für unseren Plan einsetzen sollten. Sind wir nun einmal so weit gereist, so wäre es töricht, wenn wir jetzt wieder umkehrten.«

Nun bot ihnen der Chief an, sie wieder in ihre Heimat zurückzubringen; aber sie bestanden hartnäckig auf[227] der Fortsetzung ihrer Reise. Darauf gab er ihnen viele wertvolle Geschenke, ließ ihre Säcke mit Lebensmitteln füllen, und jeder mußte ein neues Gewand anziehen. Hierauf teilte er ihnen noch mit, daß sie schon nach drei Tagen die Rassel des bösen Manitu hören würden.

Dann reisten sie ab. Die Tiere, die Vögel und die Bäume, die sie rundum sahen, waren ganz verschieden von denen ihrer Heimat, ebenso auch die Blumen und Feldfrüchte. Da ihre neuen Kleider bald zerrissen, so mußten sie ihre alten Lederanzüge wieder hervorsuchen. Die drei Tage aber, von denen ihnen der große Chief gesagt hatte, waren drei Jahre, und am Ende des dritten Jahres hörten sie auch wirklich die entfernten Töne einer großen Rassel.

Da überraschte sie einst die Nacht auf einer weiten sumpfigen Ebene, wo sie sich schnell die trockenste Stelle auswählten, um sich ein wenig auszuruhen und zu erfrischen. Während des Essens ertönte das Instrument des Bösen Geistes so stark, daß der ganze Erdboden davon erzitterte.

Nachdem sie sich wieder recht erholt hatten, gingen sie weiter und kamen in ein fein gebautes, hell erleuchtetes Haus, an dessen Tür sie ein alter Mann bewillkommnete. »Es freut mich ungemein, meine Kinder«, sagte er, »euch endlich bei mir zu sehen; ich weiß, wann ihr abgereist seid und wo ihr zuletzt geschlafen habt. Kommt herein, erzählt mir von eurem Land, und erquickt euch dabei an dem Besten, was ich euch zu bieten vermag.«[228]

Sie nahmen diese freundliche Einladung dankbar an und unterhielten dann den Alten, so gut sie es vermochten. Auch teilten sie ihm ihren Plan mit.

»Ich glaube nicht«, sagte er darauf, »daß ihr alle wieder glücklich zurückkommt, aber da ihr bereits drei Viertel des Weges hinter euch habt, so will ich euch auch nicht mehr zurückhalten. Wenn ihr diesen Platz verlassen habt, werdet ihr bald ein donnerähnliches Geräusch hören, das dadurch entsteht, daß der Himmel ständig gegen die Erde stößt. Ihr müßt euch nicht fürchten und augenblicklich, sobald ihr bemerkt, daß sich der Himmel nach oben bewegt, in den dadurch entstandenen Zwischenraum springen. Dann werdet ihr in eine unfreundliche, schneeige Gegend kommen, die nur vom Mond schwach beleuchtet wird.« Darauf entstand eine lange Pause.

»Ich habe euch nun«, fuhr der Alte fort, »euer nächstes Reiseziel gesagt und möchte euch jetzt gern noch etwas fragen. Habt ihr nie von einem Bösen Geist gehört, der in eurem Land allerlei schreckliche Verwüstungen angerichtet hat, von denen sich noch heute dort die Spuren finden?«

Die Fremden besannen sich eine Zeitlang und erwähnten dann, daß der einzige, von dem niemand etwas Gutes zu erzählen wisse, unter dem Namen Menabuscho bekannt sei.

»Das bin ich«, sagte der Alte. »Ich bin an diesen Ort gezogen, um meine Schlechtigkeiten zu bereuen und diese durch ein gottgefälliges Leben wiedergutzumachen.«[229]

Die sechs Reisenden erschraken darüber fast zu Tode und zitterten wie Espenlaub.

»Seht ihr das kleine spitze Häuschen dort unten?« fragte der Alte nach einer Weile. »Teilt ihm eure Wünsche mit, und es wird euch günstige Antworten zuflüstern.«

Der erste wünschte ewig zu leben und nie Not zu leiden. Die Antwort war befriedigend. Der zweite stellte denselben Wunsch mit demselben Resultat. Der dritte wollte nur etwas länger leben als gewöhnlich und besonders auf seinen Kriegsfahrten glücklich sein. Auch ihm wurde sein Wunsch gewährt; ebenso auch dem vierten, der sich dasselbe ausbat. Der fünfte und der sechste waren am bescheidensten, und sie begnügten sich mit der gewöhnlichen Lebensdauer und gutem Erfolg auf ihren Jagdzügen, damit sie immer imstande seien, ihre Eltern und die darbenden Verwandten zu ernähren.

Danach machten sie sich zur Weiterreise fertig. Sie hatten sich ein ganzes Jahr bei Menabuscho aufgehalten, trotzdem dieser sagte, es sei nur ein Tag gewesen. Als sie vor seiner Tür standen, um Abschied zu nehmen, sagte er: »Wartet ein wenig, damit ich gleich die Bitte den zweien, die sich ein ewiges Leben ausbaten, erfüllen kann!«

Darauf verwandelte er den einen in einen Felsen und den anderen in eine hohe Zeder. Die übrigen vier setzten unbelästigt ihre Reise fort, und in kurzer Zeit hörten sie das schreckliche Getöse des Himmels, der ständig gegen die Erde stieß. Fürchterliche Stürme[230] erhoben sich, und die Wanderer hatten große Mühe, sich auf den Füßen zu halten. Die Sonne ging ihnen ganz dicht über den Köpfen weg.

Die besagte Spalte wurde nun auch sichtbar, und jene, die sich mit der Erfüllung bescheidener Wünsche begnügt hatten, sprangen glücklich hindurch; die anderen aber zauderten noch eine Weile; währenddem aber stieß der Himmel plötzlich gegen die Erde und zerdrückte sie beide zu schwarzem Brei.

Die zwei erfolgreichen Männer, als deren Anführer nun Iskodä galt, sahen sich in einem reizenden Land, das der Mond freundlich erleuchtete. Als sie etwas weitergegangen waren, begegneten sie einer allerliebsten Frau mit weißem Gesicht, die sich über ihre Ankunft recht herzlich freute. Es war nämlich Frau Luna. Diese versprach ihnen, sie ihrem Bruder – der Sonne –, sobald dieser von seiner Tageslaufbahn zurückkehre, vorzustellen; und sie hielt auch Wort.

Als sie darauf einige Stunden hinter dem Sonnenbruder dreinmarschiert und dabei recht müde geworden waren, da er gewaltige Schritte machte, drehte sich dieser um und setzte sich ein wenig zur Ruhe. »Ich konnte«, fing er an, »vorher kein Wort zu euch sprechen, weil ich meinen Ruheplatz noch nicht erreicht hatte. Erzählt mir nun eure ganze Reise, und sagt mir auch den eigentlichen Grund, der euch zu mir geführt hat.«

Iskodä teilte ihm nun die ganze Geschichte mit und schloß zuletzt mit dem Wunsch, sie wieder wohlbehalten auf die Erde zu geleiten und, wenn er könnte,[231] ihnen genaue Auskunft über ihre unglücklichen Brüder zu geben.

»Eure Gefährten«, sagte der Sonnenbruder, »sind große Narren gewesen; warum haben sie sich auch das gewünscht, was nur Manitus besitzen können? Euch aber will ich angenehme und sorgenfreie Tage sehen lassen und euch sicher in eure Heimat geleiten.«

Dann setzte er sie in einen großen Korb und ließ sie an einem langen Seil herab zu ihren hochbetagten Eltern.

1

Salzwasser

Quelle:
Knortz, Karl: Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas. München: Verlag Lothar Borowsky, 1979, S. 224-232.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Knigge, Adolph Freiherr von

Über den Umgang mit Menschen

Über den Umgang mit Menschen

»Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. – Das heißt: Ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen.« Adolph Freiherr von Knigge

276 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon