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Menabuscho

[258] In alten Zeiten kam einmal ein großer Manitu auf die Erde, der einem Indianer die Frau wegnahm und mit ihr in kurzer Zeit vier Kinder zeugte. Der erste Sohn hieß Menabuscho oder Freund der Menschen; der zweite hieß Tschibiabos, und dieser hatte die Toten zu bewachen und war der Beherrscher des Seelenreiches. Wabasso, der dritte, floh, sobald er das Weltlicht erblickte, in den fernen Norden und wurde dort in einen weißen Hasen verwandelt, in welcher Gestalt er für einen mächtigen Geist gehalten wird. Der vierte Sohn, bei dessen Geburt die Mutter starb, erhielt den[258] Namen Tschokanipock oder der Mann des Feuersteins.

Als Menabuscho erwachsen war und sich recht kräftig und mutig fühlte, fing er mit seinem jüngsten Bruder Streit an, weil dieser am Tod seiner Mutter schuld war. Dieser Krieg dauerte sehr lange, denn beide waren sich an Kraft ziemlich gleich.

Sie verfolgten sich durch die ganze Welt, und man sieht heute noch überall ihre Spuren, denn jeder Blutstropfen, der dabei floß, und jedes Stückchen Fleisch, das abgeschlagen wurde, verwandelte sich augenblicklich in einen großen Felsen. Aus Tschokanipocks Fleisch bildeten sich größtenteils jene Steine, aus denen die Indianer Feuer schlagen.

Endlich gelang es Menabuscho, seinem Bruder die Eingeweide herauszureißen und ihn somit vollends zu vernichten. Diese wurden zu fruchtbaren Weinstöcken.

Menabuscho war ein sehr gerechter Mann und konnte kein Verbrechen ungestraft mit ansehen, weshalb sich auch keiner mit schlechtem Gewissen in seiner Nähe blicken ließ. Er war ein sehr gebildeter Mensch und lehrte die Rothäute viele Künste und Wissenschaften; er zeigte ihnen auch, wie man Äxte, Speere, Pfeile, Bogen und Schlingen macht und wie man diese vorteilhaft gebraucht. Darüber freuten sich jene ungemein; sie jagten, fischten und kämpften nach Herzenslust und waren in all ihrem Tun erfolgreich.

Die bösen Manitus in der Erde aber freuten sich nicht, daß Menabuscho die Menschen solche Kenntnisse gelehrt[259] und ihnen solch tödliche Waffen in die Hände gegeben hatte; sie ärgerten sich schrecklich darüber und gingen in ihrem Ärger zuletzt sogar so weit, sich gegen Menabuscho und seine Brüder zu verbünden, um sie womöglich zu vernichten. Doch Menabuscho erfuhr dies noch zu rechter Zeit, so daß er die nötigen Vorsichtsmaßnahmen treffen und seine Brüder warnen konnte.

Kurze Zeit danach, als Tschibiabos auf dem zugefrorenen Oberen See jagte, zerbrachen die bösen Manitus plötzlich das Eis unter ihm und zogen ihn hinab in die Tiefe. Als Menabuscho das hörte, schwärzte er sein Gesicht und setzte sich sechs Jahre lang trauernd und wehklagend ans Ufer hin. Das ganze Land weinte mit ihm; selbst die Natur teilte seinen Schmerz, die Blumen blühten nicht mehr, die Bäume grünten nicht mehr, die Sonne schien nicht mehr, und die Vögel sangen nicht mehr.

Als nun die alten Manitus sahen, daß Menabuschos Tränen gar nicht aufhören wollten zu fließen, hatten sie wieder Mitleid mit ihm und seinem Kummer und beschlossen, eine heilige Hütte zu bauen und ein großes Fest zu bereiten und den Trauernden dazu einzuladen.

Menabuscho nahm die Einladung auch an, wusch seine Trauerfarben ab und stieg hinab in die Tiefe. Die Mantius dort hatten ihm Pfeifen mit dem feinsten Tabak gefüllt und sich ihren besten Sonntagsstaat angezogen. Als der Erwartete unter ihnen erschien, reichten sie ihm gleich eine Schale voll kräftigen Medizintranks,[260] worauf seine Schwermut und Melancholie verflogen und er so lustig und heiter wurde wie sie und an den heiligen Tänzen freudig teilnahm.

Danach boten sie alle ihre stärksten medizinenen Künste auf, um den unglücklichen Tschibiabos wie der ins Leben zu rufen, was ihnen auch wirklich gelang. Aber er durfte die Medizinhütte nicht betreten. Eine ewig brennende Kohle wurde ihm herausgereicht, damit er sich zu jeder Zeit Feuer machen könne.

Darauf ging Menabuscho wieder zurück auf die Erde und tanzte seinen Leuten den Medizintanz vor, der von allen Tänzen von der kräftigsten Wirkung ist und den der Große Geist am liebsten sieht. Dann


Lehrt' er den Gebrauch der Kräuter,

Wies das Hexengift für Gifte

Und die Heilung aller Krankheit.


Auch stellte Menabuscho vier Geister als Regenten der vier großen Winde an. Er selbst soll jetzt hoch im Norden auf einem unermeßlichen Eisberg wohnen, und die Indianer fürchten, daß, sobald ihn die Weißen entdecken, diese ihn wegjagen und daß dann die ganze Welt mit Feuer untergehen werde.

Quelle:
Knortz, Karl: Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas. München: Verlag Lothar Borowsky, 1979, S. 258-261.
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