9
Miskwandib
oder Rotkopf und seine beiden Söhne

[62] Miskwandib war ein tüchtiger Jäger und liebte auch die Jagd über alles. Nun klagten ihm seine Söhne einst, daß sie ihre Mutter immer allein ließe, wenn er im Wald umherstreife, und daß sie ihn lieber begleiten möchten, als sich zu Hause zu langweilen. Der Jäger wußte dies recht gut, wollte jedoch seine Kinder nicht wissen lassen, daß ihre Mutter den Weg der schlechten Frauen wandle. Doch stand er am anderen Morgen recht früh auf und verbarg sich unbemerkt in einem nahe stehenden dichten Gebüsch.

Es dauerte nicht lange, so erschienen der Störer seines häuslichen Glücks und seine Frau dicht in seiner Nähe. Beide begrüßten sich auf die liebevollste Weise, und als sie sich in der süßesten Umarmung befanden, sprang Miskwandib aus seinem Versteck hervor und tötete beide mit einem einzigen Keulenschlag. Dann band er sie zusammen, schleppte sie in seine Hütte und vergrub sie neben dem Feuerplatz.

»Jetzt, meine lieben Kinder«, sagte er darauf, »ist es Zeit, daß ich fliehe; meine Sicherheit hängt nur davon ab, daß ihr den ganzen Vorgang geheimhaltet. Ich werde mich in den Himmel flüchten. Wenn jemand kommt und nach mir fragt, so sagt ihm, daß ich auf die[63] Jagd gegangen sei und gegen Abend wieder zurückkehre. Dies werden die Leute glauben und, ohne Verdacht zu schöpfen, wieder weggehen. Auch ihr müßt später fliehen; ich werde euch jeden Tag aus den Wolken den rechten Weg zeigen. Wenn ihr Feuer braucht, so legt nur einfach ein Stückchen Holz auf die Erde, und mein Manitu wird es sogleich anzünden.«

Darauf stieg er durch einen hohlen Baum hinauf in den Himmel. Kurz danach erschienen zehn Männer in seinem Wigwam und fragten die Knaben nach ihren Eltern. »Mein Vater ist ausgegangen«, sagte der älteste, »und meine Mutter sammelt Holz.«

Darauf entfernten sich die Männer wieder, um, wie sie sagten, nach ihnen zu suchen. Als sie jedoch nirgends Spuren von ihnen entdecken konnten, kamen sie wieder zurück und bemerkten zu ihrem größten Erstaunen, daß nun auch die beiden Knaben weg waren, was ihnen sehr verdächtig vorkam. Auch hatte einer der Besucher bemerkt, daß der jüngste ständig zum Feuerplatz geblickt habe, was sicherlich etwas zu bedeuten hatte.

Sie beschlossen nun, jene Stelle augenblicklich einer genauen Untersuchung zu unterwerfen. Zu ihrem größten Schrecken zogen sie auch das verbrecherische und ermordete Paar hervor. Sie schworen nun, jene Schandtat Miskwandibs blutig zu rächen. Auch bemerkten sie bald die bewußte Baumhöhle, durch die sie ebenfalls in den Himmel kletterten, während der Geist der getöteten Mutter die Kinder verfolgte, die nach Süden geflohen waren. Der Vater sprach ständig[64] mit ihnen und ermahnte sie, sich ja nicht aufzuhalten, damit sie ihrer Verfolgerin nicht in die Hände fielen. Doch die Knaben waren von dem ständigen Laufen zuletzt so müde und lahm geworden, daß sie sich fast nicht mehr bewegen konnten, und ihre Mutter war ihnen bereits so nahe, daß sie sie eben an den Haaren fassen wollte. Da warf der älteste schnell sein kleines Steinmesser hinter sich, das sich augenblicklich in eine undurchdringliche Dornenhecke verwandelte, an der sie sich so zerriß, daß nur noch der Kopf von ihr übrigblieb.

Am Abend warf der Vater einen brennenden Baumstamm vom Himmel herab, damit sich die beiden Kleinen einen Vogel braten konnten, den sie geschossen hatten. Dabei hörten sie ständig ein grauenhaftes donnerartiges Getöse in der Luft, das von ihrem Vater und seinen Verfolgern herrührte.

Am folgenden Morgen, als sie aufgestanden waren und ihre Reise fortsetzten, eilte auch der Kopf ihrer Mutter wieder hinter ihnen her und versuchte alle Überredungskünste, sie zum Stehen zu bringen; aber sie horchten lieber auf die Ratschläge, die ihnen Miskwandib von oben gab.

Am dritten Tag, als ihre Mutter sie abermals eingeholt hatte, warf der älteste Knabe schnell einen medizinenen oder magischen Stein weg, den ihm sein Vater zu diesem Zweck gegeben hatte, und es bildete sich jener hohe Felsgrat daraus, den man noch heute in der Nähe von Sault-Ste-Marie sieht. Dieser hinderte nun den Kopf an der Verfolgung der Knaben, so daß diese[65] sicher die Stromschnellen von Bawating1 erreichten. Hier erschien ihr Vater in Gestalt eines Mama oder Spechtes und machte ihnen die traurige Mitteilung, daß seine Feinde ihn eingeholt und getötet hätten und daß sie von nun an Oschuckä, der mächtige Schutzgeist, in seine Obhut nehmen werde. Darauf sahen sie eine kolossale Gestalt inmitten der Stromschnellen, die sich allmählich zu ihnen herüberneigte und sie einlud, sich auf ihren Rücken zu setzen. Das taten sie denn auch, und Oschuckä trug sie hinüber und setzte sie sanft am anderen Ufer wieder ab.

Kurz danach kam auch die wütende Kopffrau wieder angeflogen und verlangte von Oschuckä, ebenfalls hinübergetragen zu werden. Aber jener Manitu kannte ihren sauberen Charakter bereits und hielt ihr wegen ihres unmoralischen Lebenswandels eine recht derbe Strafpredigt, in der er sie als die alleinige Ursache des geschehenen Unglücks hinstellte. Trotzdem aber bestand sie hartnäckig auf ihrer Bitte, bot all ihre Liebenswürdigkeit auf und sagte Oschuckä die süßesten Schmeicheleien; aber der tat, als habe er ein Herz aus Stein und Eisen, und hob sie nur unter der Bedingung, daß sie sich von nun an nach seinen Lehren richten wolle, auf seine Achsel, um sie so – gegen eine scharfe Felskante zu schleudern, daß Blut, Gehirn und Knochen nach allen vier Winden spritzten. Die kleinen Fische des Sees fraßen diese Stückchen gierig[66] auf, worauf sie zu dicken Weißfischen wurden, die sich heute noch zahlreich in jenem Wasser finden. Nachdem darauf Oschuckä mit einem Manitu höheren Ranges konferiert hatte, ließ er zwei blühende Mädchen aus dem Stamm der Wässissiks kommen und gab sie seinen beiden Schützlingen zu Frauen. Bald erfreuten sich diese einer großen Menge hoffnungsvoller Sprößlinge, die in verhältnismäßig kurzer Zeit einen mächtigen Stamm bildeten, der die Ufer des Huron- und des Ontariosees bewohnte.

Nun kam einst eine merkwürdige weißgekleidete Gestalt in einem an einem unsichtbaren Faden hängenden Korb vom Himmel zu ihnen herab und machte sie in mildem Ton auf das große Unglück aufmerksam, das der böse Schlafgeist über sie bringen würde, wenn sie sich seiner nicht beizeiten entledigten. Sie lud auch mehrere ein, sie hinauf in den Himmel zu begleiten und die dortige Herrlichkeit in Augenschein zu nehmen, was jedoch allen wegen des dünnen Fadens eine viel zu gefährliche Luftfahrt zu sein schien.

Darauf nahm nun der himmlische Abgesandte Pfeil und Bogen zur Hand und verwundete einige Rothäute damit, zog dann aus den Wunden lange dünne Würmer und sagte: »Seht, das ist das teuflische Gewürm, das der Schlafgott in euer Fleisch gehext hat, um euch zu verderben!«

Ehe die Frau nun wieder abzog, gab sie ihnen noch folgende Lehren: »Seid wohltätig und friedfertig gegeneinander; keiner nehme des anderen Eigentum, sondern erwerbe sich alles in redlicher Weise!«[67]

Das gefiel den Leuten; sie versprachen, gehorsam zu sein und zu Ehren des großen Lehrers jährlich einen Medizintanz zu veranstalten – ein Versprechen, das sie auch bis heute gehalten haben.

Aber der Schlafgott war auch nicht untätig gewesen und hatte sich unter den jungen Leuten zweifelhaften Charakters einige Anhänger zu verschaffen gewußt, die ihm auch einen jährlichen Tanz, den sogenannten Wabanotanz, gelobten, der eigentlich dem Teufel gilt.

Als sich später im Lauf der Zeiten die Teilnahme an diesem letzteren Tanz mehr und mehr verallgemeinerte und der Einfluß der besser denkenden Männer tagtäglich schwand, erschien jener himmlische Bote abermals auf der Erde und verkündete folgendes: »Hört, ihr gottlosen, sündhaften Menschen, was der Große Geist beschlossen hat! Zuerst werden fünf Jahre des gräßlichsten Winters kommen; Tag und Nacht wird es schneien, und zwar so dicht, daß keiner mehr einen Atemzug tun kann! Dann werden fünf Jahre unaufhörlichen Regens kommen, und das Wasser wird die ganze Erde zerstören mit allen Bäumen, Menschen und Tieren. Dann soll die Sonne zehn Jahre lang ihre trocknenden Strahlen aussenden und eine neue Erde bilden, die den aus ihren Gräbern wieder hervorgehenden guten Indianern ergiebige Jagdgründe bieten soll. Die Bösewichter aber werden teuflischen Geistern überantwortet werden, und dazu gehören hauptsächlich diejenigen, die dem Wabanotanz huldigen!«

1

die Stromschnellen bei Sault-Ste-Marie am Lake Superior oder Oberen See

Quelle:
Knortz, Karl: Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas. München: Verlag Lothar Borowsky, 1979, S. 62-68.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Neukirch, Benjamin

Gedichte und Satiren

Gedichte und Satiren

»Es giebet viel Leute/ welche die deutsche poesie so hoch erheben/ als ob sie nach allen stücken vollkommen wäre; Hingegen hat es auch andere/ welche sie gantz erniedrigen/ und nichts geschmacktes daran finden/ als die reimen. Beyde sind von ihren vorurtheilen sehr eingenommen. Denn wie sich die ersten um nichts bekümmern/ als was auff ihrem eignen miste gewachsen: Also verachten die andern alles/ was nicht seinen ursprung aus Franckreich hat. Summa: es gehet ihnen/ wie den kleidernarren/ deren etliche alles alte/die andern alles neue für zierlich halten; ungeachtet sie selbst nicht wissen/ was in einem oder dem andern gutes stecket.« B.N.

162 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon