[272] 101. Der Wildschweinkobold

[272] Ein Mann wohnte zusammen mit seiner Frau, seiner Schwiegermutter und seinem kleinen Sohn. Der Bruder des Mannes war vor drei Jahren von dem Wildschweindämon geraubt worden, und nun wanderte er mit den Wildschweinen in den Wäldern umher.

Der Mann verstand nicht zu jagen. Er konnte nur Fische mit Gift fangen, hier und da eine Schildkröte greifen und Schildkröteneier sammeln. Er konnte aber keine Wildschweine, keine Spinnenaffen, Brüllaffen oder Waldhühner töten. Seine Schwiegermutter schalt deshalb beständig mit ihm.

»Was bist du für ein Mann, der nicht zu jagen versteht! Wir sind hungrig nach Fleisch! Geh und versuche es noch einmal!« sagte die Alte.

Der Mann war dieses ewigen Zankes müde und dachte: »Das Beste wäre, ich träfe meinen Bruder, dann kann ich ihn begleiten.«

Eines Tages schimpfte die Alte wieder mit ihrem Schwiegersohn. Er war auf ihrem Acker beschäftigt.

»Wir sind hungrig auf Fleisch. Hätte ich das gewußt, so hätte ich meine Tochter nicht einem Manne gegeben, der nicht jagen kann. Du mußt etwas zu essen nach Hause bringen!« sagte die Schwiegermutter.

Der Mann versprach am folgenden Morgen zu gehen, um Fische mit Gift zu fangen, und bat seine Frau, ihm einige Bananen zur Wegzehrung zu rösten. Sie röstete einige Bananen. Dann nahm er Gift mit und machte sich früh am folgenden Morgen auf den Weg. Er ging zuerst ganz langsam und überlegte, in welchem Bache er am besten Fische vergiften könne. Dann dachte er an seinen Bruder:

»Wenn ich ihn doch treffen könnte, damit ich nicht immer das Gezänk der Schwiegermutter anzuhören brauchte.«[273]

Es krachte und grunzte im Walde. Der Bruder, der mit den Wildschweinen war, hatte gefühlt, daß sein Bruder an ihn dachte. Er trennte sich von der Herde und traf den Bruder.

»Wie geht es dir, großer Bruder?« fragte der jüngere Bruder.

»Wie geht es dir, kleiner Bruder?« fragte der ältere Bruder. Der jüngere Bruder berichtete ihm nun, daß seine Schwiegermutter immer mit ihm schelte, und bat, mit der Wildschweinherde folgen zu dürfen.

»Das darfst du nicht. Es ist eine schwere Arbeit; immer muß ich mit den Schweinen umherstreifen. Wir müssen weit gehen, um Früchte und Wurzeln zu sammeln, und ich muß auf die Bäume klettern, um die Früchte herunterzuschütteln. Ich werde fünf Wildschweine, zwei Eber und zwei Sauen und dann den Wildschweinkobold binden. Die Wildschweine außer dem Kobold sollst du töten, und dann sollst du deine Schwiegermutter hierher schicken, um den Kobold nach Hause zu tragen, den ich so binden werde, als wäre er tot,« sagte der ältere Bruder.

Der jüngere Bruder tötete die Wildschweine, und dann nahm er zwei auf den Rücken und trug sie nach Hause. Als die Schwiegermutter ihn erblickte, rief sie der Tochter zu: »Mach Feuer an, dein Mann kommt schwer beladen nach Hause!« – Als die Alte die Wildschweine erblickte, wurde sie sehr vergnügt. »Wo hast du sie getötet?« sagte sie. »Hier ganz in der Nähe traf ich die Herde,« entgegnete er.

»Wie viele hast du getötet?« fragte sie. »Fünf! Willst du mir nicht helfen, sie nach Hause zu bringen? Es hängt da ganz dicht beim Pfade ein großer Eber. Den kannst du gut nach Hause tragen,« sagte der Mann. Die Schwiegermutter war gleich dazu bereit. Sie wollte den Sohn ihrer Tochter mitnehmen, das hielt der Mann aber für unnötig, denn das Wildschwein hing ja ganz in der Nähe.

Sehr zufrieden wanderte die Alte ihres Weges. Am Pfade an einem Baum fand sie den großen Eber aufgehängt. Sie machte ihn los und nahm ihn auf den Rücken, um ihn nach[274] Hause zu tragen. Als die Alte gehen wollte, nahm der Eber die Alte, lief mit ihr davon und trug sie nach der in der Nähe befindlichen Herde.

Dort wurde sie in eine Sau verwandelt – und eine Sau ist sie noch.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 272-275.
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