[275] 102. Tiri und Karu

In alter Zeit versengte ein böser Geist, genannt Sararuma oder Aïma Sunje, das ganze Land der Yurakare. Kein Baum, kein Lebewesen hielt dieser Feuersbrunst stand. Ein Mann, der die Vorsicht gehabt hatte, sich eine sehr tiefe unterirdische Wohnung zu graben, wohin er sich mit Lebensmitteln für die Dauer des Feuers zurückzog, war allein dem allgemeinen Verhängnis entwischt. Um sich zu überzeugen, ob die Flammen noch immer dieselbe Kraft hätten, streckte er von Zeit zu Zeit eine lange Gerte aus dem Loch. Die beiden ersten Male zog er sie brennend zurück, aber das drittemal war sie kalt. Er wartete noch vier Tage, bevor er selbst hinausging. Als er traurig dahinschritt über die verwüstete Erde ohne Nahrungsmittel und ohne Obdach und sein elendes Los beweinte, erschien ihm Sararuma, ganz in Rot gekleidet, der aus fernen Ländern kam, und sagte zu ihm: »Obwohl ich die Ursache von all dem Übel bin, habe ich dennoch Mitleid mit dir.« – Dann gab er ihm eine Handvoll Samen von den für das menschliche Leben notwendigsten Pflanzen und befahl ihm, sie zu säen. Ein herrlicher Wald entstand sofort wie durch Zauberei.

Kurze Zeit darauf fand sich dieser Mann, man weiß nicht wie, mit einer Frau, von der er mehrere Söhne und eine Tochter hatte. Als diese in das heiratsfähige Alter gekommen war, fühlte sie sich sehr einsam. Da heftete sich ihr Auge auf einen schönen Baum, genannt Ule, der, beladen mit purpurnen[275] Blüten, am Ufer eines Flusses stand. Wenn es ein Mann wäre, sie würde ihn lieben! – Nachdem sich die Jungfrau mit Uruku bemalt hatte, um sich noch mehr zu verschönern, weinte, seufzte, wartete, hoffte sie. Sie hoffte, und es war nicht vergeblich. Der Baum wurde ein Mann, und die Jungfrau war glücklich. Die folgende Nacht war sie nicht mehr allein. Ule, in einen Mann verwandelt, leistete ihr Gesellschaft. Aber Ule verschwand mit der Morgenröte, und die Jungfrau fürchtete, nur ein vorübergehendes Glück gekannt zu haben. Sie vertraute ihre Sorgen ihrer Mutter an, und diese suchte mit ihr nach Mitteln, ihn zurückzuhalten. Ule kam die folgende Nacht wieder. Die junge Braut folgte den Ratschlägen ihrer Mutter, band ihn mit Lianen und hielt ihn so bei sich zurück. Nach vier Tagen willigte Ule ein, zu bleiben und sich mit der Jungfrau zu verheiraten. Man gab ihm die Freiheit wieder.


102. Tiri und Karu

Die beiden Gatten genossen ein vollkommenes Glück. Da wurde Ule, als er für mehrere Tage mit seinen Schwägern auf die Jagd nach großen Affen gegangen war, das Opfer eines Jaguars. Die junge Frau, voll Sehnsucht ihn wiederzusehen, war ihm entgegengegangen, um ihm Chicha zu bringen. Sie erfuhr durch ihre Brüder von dem Unglück, das sie getroffen hatte. Verzweifelt und keine Gefahr fürchtend, wollte sie zu ihrem Ule eilen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Geführt von ihren Brüdern, kam sie an den blutgetränkten Platz, wo die Gebeine ihres Gatten zerstreut am Boden lagen. In ihrem Schmerz sammelte sie mit der größten Sorgfalt alle Stücke seines Körpers und legte sie aneinander, um ihren Gatten noch einmal wiederzusehen. Sie betrachtete ihn und beweinte ihren Verlust. Da wurde ihre Liebe ein zweites Mal belohnt. Ule wurde wieder lebendig und sagte: »Ich scheine gut geschlafen zu haben.« – Trunken vor Freude, bedeckte die junge Frau ihren Gatten mit Liebkosungen, und sie gingen zusammen nach ihrer Wohnung,[276] als Ule, den es dürstete, an einem Bache halt machte, um seinen Durst zu löschen. Zufällig betrachtete er sich in dem klaren Wasser und sah, daß ihm ein Stück an der Wange fehlte. Als er sich so entstellt sah, wollte er seine Frau nicht mehr begleiten, und sie konnte trotz der lebhaftesten Bitten ihn nicht von seinem Entschluß abbringen.

Da Ule seiner Frau nicht folgen wollte, nahm er von ihr Abschied und empfahl ihr, wenn sie bei der Rückkehr in ihr Haus den Weg nicht verlieren wolle, den Fußpfad weiter zu gehen, ohne sich aufzuhalten, besonders aber sich nicht umzuwenden, wenn sie hinter sich Äste oder irgendeine andere Sache, was es auch sei, von dem Gipfel der Bäume fallen höre. Dann sollte sie sagen, ohne hinzublicken: »Das ist die Jagd meines Gatten.« – Ganz zitternd von dem, was ihr begegnet war, kam die arme Frau traurig zurück und merkte sich wohl die letzten Ermahnungen Ules. Aber einmal, erschreckt von dem Fall eines großen Blattes, vergaß sie die Belehrungen, die sie empfangen hatte, wandte sich um und verlor dadurch so den Kopf, daß sie sich im Walde verirrte. Indem sie suchte, sich zurückzufinden, eilte sie bald in der einen, bald in der anderen Richtung und fand schließlich einen Weg, der sie nach einem langen Marsch in die Wohnung einer Jaguarfamilie führte.

Die Mutter dieser gefräßigen Tiere war allein. Sie empfing die junge Frau sehr freundlich, und damit ihre Söhne, die noch auf der Jagd waren, ihr nichts Böses taten, versteckte sie sie. Bei ihrer Rückkehr witterten die Jaguare, daß etwas Fremdes in der Hütte war. Als sie die junge Frau entdeckt hatten, wollten sie sie zerreißen, aber ihre Mutter wehrte es ihnen. Sie zwangen sie herbeizukommen und befahlen ihr, ihnen die Insekten vom Kopf zu suchen, die sich dort befanden, und sie zu essen. Sie hatten in der Tat den Kopf voll von einer großen Art giftiger Ameisen, genannt Torokote, und als die junge Frau sie essen sollte, konnte sie sich trotz ihres Schreckens nicht dazu entschließen. Da gab ihr die Mutter der Jaguare heimlich eine Handvoll Kalabassensamen.[277] Sie warf die Ameisen auf die Erde und kaute an ihrer Stelle die Samen. Diese List glückte ihr vollkommen bei den ersten drei Jaguaren. Aber der letzte hatte vier Augen. Diejenigen, die er am Hinterkopfe trug, sahen den Betrug der jungen Frau und ihren Ungehorsam. Das wütende Tier warf sich auf sie, tötete sie und zog aus ihrem Leib ein Kind, das gerade geboren werden sollte. Er gab es seiner Mutter, damit sie es verschlinge. Diese aber hatte mit dem Kind dasselbe Mitleid wie mit seiner Mutter. Sie steckte es in einen Topf, wie wenn sie es kochen wollte, aber sobald es ihr möglich war, zog sie es wieder heraus, kochte statt seiner eine andere Sache und pflegte das Kind nach bestem Vermögen.

Der Knabe, genannt Tiri, wurde von ihr im geheimen großgezogen und wuchs bald zum Manne empor. Er bewahrte eine große Dankbarkeit gegen seine Befreierin und brachte ihr verstohlenerweise die Beute seiner Jagd. Eines Tages sagte sie zu ihm, eine Paka fresse ihr alle Kürbisse aus ihrer Pflanzung; er solle sie mit Pfeilschüssen töten. Tiri legte sich auf die Lauer, aber er zielte schlecht und schoß der Paka nur den Schwanz ab. – Seit dieser Zeit hat die Paka keinen Schwanz mehr. – Die Paka wandte sich um und sagte zu Tiri: »Du lebst in Frieden mit den Mördern deiner Mutter, und mich, die dir nichts Böses getan hat, willst du töten!« – Bei diesen Worten, die Tiri nicht verstand, bat er das Tier, zu warten und ihm genauere Aufklärungen zu geben. Tiri folgte der Paka zu ihrem Bau, und sie erzählte ihm, daß die Jaguare seinen Vater und seine Mutter getötet hätten. Sie hätten ihn selbst fressen wollen. Seit kurzem hätten sie entdeckt, daß er noch am Leben sei, und wollten ihn nun zu ihrem Sklaven machen. Tiri war überrascht von diesen Enthüllungen, von denen er nicht das geringste gewußt hatte. Voll Wut und angereizt durch die Worte der Paka, beschloß er, den Tod seiner Eltern an ihren Mördern zu rächen. Er wartete, bis die Jaguare einzeln, beladen mit ihrer Jagdbeute, zurückkamen, und durchbohrte[278] die drei ersten nacheinander mit seinen Pfeilen. Der vierte mit den vier Augen bemerkte den Pfeil und wurde nur verwundet. Er stieg auf den Gipfel der Bäume, um sich zu retten und schrie: »Bäume, Palmen, beschützt mich! Sonne, Sterne, rettet mich! Mond, hilf mir!« – Bei diesen letzten Worten umarmte ihn der Mond und verbarg ihn. Seit der Zeit glauben die Yurakare, ihn im Gestirn der Nacht zu sehen, und die Jaguare sind Nachttiere geworden.

Tiri war mit übernatürlicher Kraft begabt. Als er sah, daß seine Wohltäterin, die Mutter der Jaguare, sehr traurig war über den Tod ihrer Söhne, weil sie nun niemand hatte, der ihr das Feld bebaute, machte er ihr ein sehr großes Feld in einem einzigen Augenblick.

Tiri, obwohl er der Herr der ganzen Natur war, langweilte sich, weil er allein lebte, und wünschte sich sehnlichst einen Freund. Eines Tages stieß er sich heftig an einen Baumstamm und riß sich dabei den Nagel an der großen Zehe aus. Er legte den Nagel in das Loch, über das er zu Fall gekommen war. Da hörte er dicht hinter sich sprechen, und als er sich umwandte, sah er seinen Nagel verwandelt in einen Mann, den er Karu nannte und der sein Vertrauter wurde. Die beiden lebten in inniger Freundschaft miteinander. Sie verbrachten ihre Zeit auf der Jagd.

Eines Tages waren sie bei einem Vogel zum Essen eingeladen. Sie taten Salz in die Speisen. Als der Vogel davon kostete, fand er dieses Gewürz so angenehm, daß die beiden Freunde ihm alles Salz, was sie hatten, überließen. Aber der Vogel kannte nicht die Eigenschaft des Salzes und hatte daher wenig Sorge es zu schützen. Er ließ es im Freien stehen. Ein starker Regen fiel und ließ es schmelzen. – Seitdem haben die Yurakare kein Salz mehr in ihren Wäldern. –

Ein anderes Mal hatte ein anderer Vogel sie eingeladen, Chicha zu trinken. Das Gefäß füllte sich von selbst wieder in demselben Maße, wie man es leerte. Tiri, überrascht, wollte sehen, wo die Flut sich aufhielt und gab dem Gefäß[279] einen leichten Schlag mit der Gerte. Da strömte die Flüssigkeit in solcher Fülle heraus, daß sie die ganze Erde überschwemmte und seinen Freund hinwegraffte. Als die Erde wieder trocken war, suchte Tiri überall seinen Freund. Endlich fand er seine Knochen und belebte sie wieder.

Die beiden Freunde fühlten sich sehr einsam und empfanden den lebhaften Wunsch, andere Wesen zu sehen, die ihnen ähnlich wären. Zu diesem Zweck verbanden sie sich mit Hokkohühnern. Aus dieser Verbindung wurden von jedem Vogel ein Mann und eine Frau geboren. Die Frauen hatten bei der Geburt die Brüste über den Augen. Tiri mußte sie erst an die Stelle setzen, die sie heute einnehmen. Karus Sohn starb und wurde von seinem Vater beerdigt. Nach einiger Zeit sagte ihm Tiri, er solle gehen und sehen, wo sein Sohn wäre, weil er ihn wieder auferwecken wolle, aber er müsse sich wohl hüten, ihn zu essen. Karu fand auf dem Grabe seines Sohnes nichts weiter als einen Strauch Mani, den er ausriß. Diese Pflanze war bedeckt mit Früchten. Karu war begierig danach und aß sie. In demselben Augenblick ließ sich ein lautes Geräusch hören, und Tiri sagte: »Karu ist ungehorsam gewesen und hat seinen Sohn gegessen. Zur Strafe werden er und alle Menschen sterblich sein, unterworfen allen Arbeiten, allen Leiden.« –

Kurze Zeit darauf schüttelte er einen Baum, um die Früchte davon zu haben. Es fiel eine Ente herab, und Tiri befahl Karu, sie zu braten und zu essen. Als Karu es getan hatte, sagte er zu ihm: »Diese Ente war dein Sohn, den du gegessen hast.« – Als Karu dies hörte, bekam er einen solchen Ekel, daß er alles, was er im Magen hatte, wieder von sich gab. Da kamen aus seinem Munde Papageien, Tukane und alle den Yurakare bekannten Vögel.

Tiri und Karu besuchten nun das Jaguarweibchen. Als er ihre blutigen Lippen sah, glaubte Tiri, daß sie Menschen begegnet sei und sie gefressen habe. Er schnitt ihr zuerst das Haar vom Kopfe und wollte sie dann totschlagen, als die Jaguarin bat, sie zu schonen; sie würde ihm auch die Wahrheit[280] sagen. Sie hatte in der Tat einen Menschen gefressen, aber einen Menschen, der an dem Bisse einer Schlange gestorben war. Diese Schlange fand sich in einem Loche, das die Jaguarin ihm zeigte. Die Schlange tötete so alle Leute, die diesen Ort verließen. Weil die Jaguarin einen Menschen gefressen hatte, der von einem anderen Tier getötet war, sagte Tiri zu ihr: »Du und deine ganze Sippe, ihr werdet euch jetzt nähren von dem, was die anderen töten werden!« Und er verwandelte sie in den Aasgeier. – Daher haben diese Vögel einen nackten Kopf. – Tiri rief einen Storch und befahl ihm, die Schlange zu greifen und zu töten. Da kamen aus dem Loche die Mansiños, die Solostos, die Quichuas oder Incas, die Chiriguanos und alle anderen Völker, die den Yurakare bekannt sind. Die Erde war bevölkert. Es erschien auch ein Mann, der König aller dieser Völker. Da fürchtete sich Tiri und verschloß das Loch.

Der Ort, von wo das Menschengeschlecht ausgegangen ist, findet sich in der Nähe eines großen Felsens, genannt Mamore, den niemand ersteigen kann und dem sich niemand nähert; so sehr fürchten die Yurakare eine riesige Schlange, die den Eingang bewacht. Er liegt nahe der Vereinigung der Flüsse Sacta und Sore, an den Quellen des Rio Mamore.

Tiri sagte zu diesen Völkern: »Ihr müßt euch teilen und alle Punkte der Erde bevölkern. Deswegen schaffe ich die Zwietracht und mache euch einander zu Feinden.« – In demselben Augenblick fielen von der Sonne viele Pfeile herab, mit denen sich besonders die Chiriguanos bewaffneten. Alle diese Völker bekämpften einander lange Zeit, bis Tiri sie beruhigte; aber jeder sonderte sich ab, da er einen Haß gegen die anderen hatte und immer bewahrte.

Nachdem er seine Aufgabe vollbracht hatte, wollte Tiri nicht mehr in diesen Wäldern leben. Er entschloß sich wegzugehen, so weit er könnte, und um zu erfahren, auf welcher Seite die Erde sich am weitesten erstreckte, sandte er nach Osten einen kleinen Vogel, den er aufgezogen hatte. Dieser kam bald zurück, halb entfiedert. Tiri schloß daraus, daß die[281] Erde auf dieser Seite keine weite Ausdehnung habe. Er sandte ihn nach Norden, und der Vogel kehrte zurück wie das erstemal. Als er ihn aber nach Westen geschickt hatte, blieb der Vogel sehr lange aus und kam zurück mit schönen Federn. Tiri entschloß sich in dieser Richtung zu gehen und verschwand.

Die Yurakare sagen, er sei nicht tot, er werde niemals sterben. Bei seinem Weggange habe er mehrere Leute mit sich geführt, die unsterblich geworden seien wie er und sich immer wieder verjüngten, wenn sie alterten.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 275-282.
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