[297] 109. Die Frau, die ihrem Manne nach Aguararenta folgte
I

Ein Mädchen wollte sich mit einem Manne verheiraten, aber er starb. Sie hatte ihn sehr gern gehabt. Am Morgen, am Tage nach seinem Tode, während es noch finster war, stand sie vor dem Hause ihrer Eltern und stieß in den Mörser. Da kam jemand und erfaßte den Mörserstab.

»Wer bist du?« fragte sie.

»Ich bin es,« sagte er. Es war ihr toter Mann. »Willst du mitkommen?«

»Ja,« sagte sie, da sie ihn sehr liebte.

Er begab sich nun fort in der Richtung, wo die Sonne aufgeht. Sein Gesicht war verhüllt, damit niemand es sähe. Sie ging hinter ihm her. Sie gingen durch den Wald; sie gingen über die Pampas und wieder durch den Wald. Am Tage schlief er, und des Nachts war er wach.

Als der Vater seine Tochter vermißte, ging er, um sie zu suchen. Er folgte ihren Spuren. Vor diesen ging eine Fuchsspur. »Anya hat meine Tochter genommen,« sagte der Vater. Zuletzt fand er sie tot am Wege. Er machte sie jedoch[297] wieder lebendig und brachte sie nach Hause. Als sie über die Pampas gingen, sahen sie einen Fuchs umherstreifen. Am folgenden Tage starb sie. Der Vater weinte. Da kam Ururuti, der weiße Kondor, und sagte, er solle nicht klagen. Ururuti nahm ihn auf den Rücken und flog mit ihm nach Aguararenta.

In Aguararenta schlief man am Tage und war wach des Nachts. Als der Vater dorthin kam, trank man Maisbier. Ururuti brachte ihn nach dem Hause seines Schwiegersohnes. Er redete seine Tochter an, aber er bekam keine Antwort. Er ging nun zu Ururuti, der ihn nach Hause brachte. Weder er noch seine Frau beweinten die tote Tochter.

Am folgenden Tage starb der Vater.


II

Es war eine Frau, deren Mann gestorben war. In der Nacht kam er zu ihr in der Gestalt eines Mannes und schlief bei ihr. Er bat sie, mit ihm nach seinem Dorfe Aguararenta zu kommen. Sie folgte ihm. Als sie unweit des Dorfes kamen, hörten sie Gesang und Tanz. Sie ging mit ihrem Manne nach dem Marktplatz, wo ein großes Trinkgelage stattfand. Sie sah dort viele Tote, die sie kannte. Die Toten hatten jedoch Angst vor ihr und hielten sich fern von ihr. Sie blieb dort, bis es Morgen wurde. Da verschwanden alle Hütten, und sie befand sich auf einer Ebene voll Fuchsspuren. Ihr Mann verwandelte sich in eine Ratte. Sie blieb dort den ganzen Tag, auf dem Stamm einer Algarrobo sitzend. Als es finster wurde, kamen die Menschen wieder, und es fand dort ein großes Trinkgelage statt. Am Morgen sagten die Toten: »Ich gehe als Baumstamm; ich gehe als Ratte; ich gehe als Geier; ich gehe als Fuchs; ich gehe als Fledermaus« usw. – Sie kehrte nach Hause zurück. Ihr Mann sagte, er werde kommen, um sie zu holen. Nach drei Tagen war sie tot Sie war ihrem Manne nach Aguararenta gefolgt.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 297-298.
Lizenz:
Kategorien: