[69] 23. Warum der Honig jetzt so selten ist

[69] In alter Zeit gab es viele Bienennester mit Honig im Walde. Da war besonders ein Mann, der ganz berühmt dafür war, sie zu entdecken. Er konnte ein Nest finden, wo niemand eins fand. Eines Tages, als er einen hohlen Baum anhieb, in dem er Honig festgestellt hatte, hörte er plötzlich eine Stimme von innen rufen: »Sieh dich vor! Du schneidest mich!« Er öffnete sehr vorsichtig den Baum und fand darin eine schöne Frau. Sie sagte ihm, sie sei Maba, die Honig-Mutter, d.h. der Geist des Honigs. Da sie ganz nackend war, sammelte er Baumwolle und machte daraus einen Schurz. Dann bat er sie, seine Frau zu werden. Sie willigte ein unter der Bedingung, daß er nie ihren Namen nenne, und sie lebten viele Jahre sehr glücklich miteinander. In demselben Maße, wie er allgemein anerkannt wurde als bester Entdecker der Bienennester, machte sie sich einen Namen durch das Brauen eines ausgezeichneten Kaschiri. Sie brauchte nur einen Trog voll zu machen, und es reichte, so viele Gäste auch kommen mochten; ja mehr noch, der eine Trog voll machte sie alle betrunken.

Eines Tages jedoch, als der Trank zu Ende war, ging er, wie es Sitte ist, als Hausherr zu seinen vielen Gästen und drückte sein Bedauern aus, daß auch der letzte Tropfen des Getränkes jetzt getrunken sei. Er versprach ihnen aber, das nächste Mal, wenn sie kämen, sollte Maba – ja, da machte er den Fehler und sprach so von seiner Frau. Sowie er den Namen genannt hatte, flog sie davon in ihr Bienennest. Er streckte die Hände aus, um sie zu halten, aber sie war schon davongeflogen. Und mit ihr flog sein Glück davon. – Seit der Zeit gehört der Honig zu den seltenen Leckerbissen.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 69-70.
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