[70] 24. Der Mann mit der Brüllaffenfrau

[70] Vor langer Zeit lebte einmal ein Aruakjäger. Er war eines Tages tief in den Wald gegangen, ohne zu Schuß zu kommen. Erst spät am Nachmittag erlegte er ein Brüllaffenweibchen. Es war zu spät, um seine Beute nach Hause zu bringen, so baute er sich eine Schutzhütte und machte es sich darin für die Nacht bequem. Dann schnitt er dem Tier den Schwanz ab, briet ihn und aß ihn und legte den übrigen Körper auf den Bratrost, damit er in der Nacht vom Rauch gedörrt würde.

Am nächsten Morgen war er früh auf und ging wieder in den Wald. Er war sehr erfolgreich und kehrte am Abend, mit Wildbret beladen, zurück. Als er sich der Schutzhütte näherte, sah er zu seiner Überraschung eine Frau in seiner Hängematte liegen und keine Äffin auf dem Bratrost. Er begriff nicht, woher sie gekommen sein konnte, und fragte sie, was sie dort täte. Da sagte sie, weil er so einsam wäre, sei sie gekommen, um ihm Gesellschaft zu leisten und nach dem Fleisch zu sehen. Auf seine Frage versicherte sie ihm, daß kein Affe auf dem Bratrost gelegen hätte, als sie gekommen sei. Er hatte seinen Argwohn wegen ihrer Herkunft, da er bemerkte, daß ihre Finger merkwürdig gekrümmt waren, und daß sie beständig versuchte, mit der einen Hand die Finger der andern Hand zu strecken. Daher fragte er sie gerade heraus, ob sie nicht selbst die Äffin sei, die auf so rätselhafte Weise verschwunden war, aber sie leugnete es. Sie war ein hübsches Mädchen, und er nahm sie zur Frau. Sie lebten glücklich zusammen, so glücklich, daß sie bald keine Geheimnisse mehr voreinander hatten.

Eines Tages fragte ihr Mann sie wieder nach der Äffin, und was wohl aus dieser geworden wäre. Da gab sie zu, daß sie die verwandelte Äffin sei, aber er dürfe niemals zu irgend jemand darüber sprechen. Wenige Tage später verließen[71] sie die Hütte und machten sich auf den Weg zum Hause des Mannes. Sie brachten viel Wild mit. Hier lebten sie nun lange Zeit und in vollem Glück. Zwar fragten ihn manchmal seine Verwandten, welchem Stamme seine Frau angehöre, aber er sagte es ihnen nie.


24. Der Mann mit der Brüllaffenfrau

Eines Morgens in aller Frühe hörte die Frau die Brüllaffen rufen. Sie erklärte ihrem Manne, daß ihr Onkel ein Trinkfest gäbe, und schlug ihm vor, zusammen hinzugehen. Der Brüllaffen-Onkel heulte auf den obersten Zweigen eines riesigen Baumes. Der Stamm dieses Baumes war so dick, daß ein richtiger Fußpfad hinauf angelegt war. Das Paar fand den Weg zu dem Baume und folgte dem Pfad. Immer weiter hinauf stiegen sie, bis sie sich im Lande der Brüllaffen befanden und an der Schwelle eines großen Hauses ankamen! Und wieviel Getränk gab es da! Und so viele Brüllaffen, um es zu trinken! Jeder einzelne wurde betrunken, und dann begannen sie zu schwatzen, und jeder stellte an den anderen alle Arten von Fragen. Unser Freund wurde wieder gefragt, von welchem Stamme seine Frau sei, und da er nun auch nicht mehr nüchtern war, verriet er das Geheimnis und sagte ihnen, daß sie eigentlich eine Brülläffin sei. Aber kaum hatte er das verbotene Wort ausgesprochen, da verschwand alles, seine Frau, das Getränk, das Haus und die Affen, und er fand sich allein und verlassen auf dem Wipfel des riesigen Baumes. Wie sollte er nun herunterkommen? Die Höhe war zu groß, um hinunterzuspringen, und der Stamm war viel zu dick, um ihn zu umklammern und daran herunterzuklettern. Er wußte keinen Rat und fühlte sich sehr unglücklich.

Nach einiger Zeit kam ein Vogel und fragte ihn, was er da oben so ganz allein treibe. Als der Vogel hörte, daß der arme Mann seine Frau verloren habe, nur weil er gesagt hatte, sie gehöre zum Brüllaffenstamm, erbot er sich, ihm zu helfen und ihn sicher wieder zum Erdboden zu bringen.[72] Der Mann war erstaunt und fragte, wie er das anstellen wolle. Da löste der Vogel die Luftwurzeln einer Schlingpflanze. Der Mann folgte seinen Weisungen. Bald erreichten die hängenden Wurzeln den Boden, und der Mann konnte sicher daran herunterklettern.

So weit war es gut, aber selbst jetzt wußte er noch nicht, wo er war, und in welcher Richtung sein Haus lag. Ein kleiner Kolibri flog umher und setzte sich auf einen nahen Busch. Er bot dem Manne an, ihm den Weg zu zeigen. Aber er flog zu rasch. Der Mann konnte ihm nicht folgen. Da kam das Vöglein zurück, und diesmal flog es eine gerade Strecke, bevor es verschwand. Der Mann folgte dem Flug und kam an einen Pfad. Dort traf ihn der kleine Vogel und sagte: »Folge dem Pfad!« Dies tat der Mann, und so kam er nach Hause.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 70-73.
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