[81] 29. Der Wunderbaum

Es gab eine Zeit, da hatten die Indianer noch keine Kassawa zu essen. Sie litten alle Hunger. Die Tiere und die Vögel hatten auch nichts zu essen. Sie hatten auch Hunger. Nur der Tapir ging regelmäßig jeden Morgen aus und kehrte des Abends zurück und war immer rund und fett. Die anderen sahen, was er fallen ließ: Bananenschalen, Zuckerrohrstreifen usw., und sagten zueinander: »Der Tapir muß einen guten Futterplatz gefunden haben. Laßt uns ihn belauern!«

Am nächsten Morgen schickten sie die Beutelratte aus, um ihm zu folgen und herauszubringen, wie er es anstellte, in solch gutem Zustand zu sein. Die Ratte tat, was ihr aufgetragen war und folgte dem Tapir einen langen, langen Weg in den Wald hinein. Dort machte er halt unter einem riesigen Baum und sammelte die Früchte, die herabgefallen waren. Dieser Baum war der Allepantepo. Es war ein wunderbarer Baum, denn alle Früchte, die man sich nur wünschen konnte, wuchsen auf seinen Zweigen: Bananen, Kassawa, Yams, Pflaumen, Ananas und alle die anderen Früchte, die die Karaiben lieben. Sobald der Tapir sich vollgefressen hatte, erkletterte die Ratte den Baum und knabberte am Mais, um ihren Hunger zu stillen. Als sie nichts mehr essen konnte, kam sie herunter und brachte ein Korn mit, um den anderen zu zeigen, daß sie Erfolg gehabt hätte.

Daraufhin folgten die Indianer der Ratte, die sie zu dem[81] Baum zurückführte. Als sie ihn erreichten, waren viele Früchte zu Boden gefallen. Nachdem sie alle aufgelesen hatten, versuchten sie den Baum zu erklettern, aber er war zu dick und glatt. Daher beschlossen sie, ihn umzuhauen. Sie machten ein Gerüst rund um den Stamm und fingen an, mit ihren Steinäxten zu hacken. Sie arbeiteten zehn Tage, aber der Baum wollte nicht fallen – so dick war Allepantepo! So schlugen sie weiter noch einmal zehn Tage, und noch immer wollte der Baum nicht fallen.

Zu dieser Zeit hatte ihre Arbeit sie durstig gemacht. Da gaben die Indianer allen Tieren Kalabassen zum Wasserschöpfen, nur dem Tapir gaben sie ein Sieb. Als sie an das Ufer kamen, tranken alle aus ihren Gefäßen. Nur der Tapir blieb durstig, denn aus seinem Sieb floß das Wasser so schnell heraus, wie er es hineinschöpfte. Das war ein Teil seiner Strafe dafür, daß er so habgierig gewesen war und das Geheimnis des Wunderbaumes für sich behalten hatte.

Nach Ablauf von abermals zehn Tagen, in denen sie ununterbrochen schlugen, fiel endlich der Baum. Die Indianer nahmen als ihren Anteil alle Kassawa, Zuckerrohr, Yams, Bananen, Bataten, Kürbisse und Wassermelonen. Das Aguti und die Paka und andere Tiere schlüpften in die Zweige, um sich alles zu holen, was sie gern hatten. Als der Tapir endlich vom Flußufer zurückkam, hatte man nur noch die Pflaumen für ihn übrig gelassen, und mit diesen muß er zufrieden sein bis auf den heutigen Tag.


29. Der Wunderbaum

Was die Indianer nahmen, brachten sie nach Hause und pflanzten es auf ihre Felder. Aber der Bunia-Vogel sprach zu ihnen und erklärte ihnen, wie jede Frucht fortzupflanzen und zu kochen sei, und daß einige, wie z.B. die bittere Kassawa-Brühe, gekocht werden müßten, bevor sie genießbar seien, während andere Früchte roh gegessen werden könnten.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 81-82.
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