[85] 32. Hänge keinen, bevor du ihn hast

Eines Tages jagte ein Mann im Walde weit entfernt von seinem Hause. Die Nacht überraschte ihn, als er gerade daran dachte umzukehren. Im Dunkeln verlor er den Weg. Da legte er sich zum Schlafen nieder, gerade unter ein überhängendes Nest der Baumameisen. Nach einer Weile fragten ihn die Ameisen, ob er schon schliefe, und er sagte: »Noch nicht.« Nach einiger Zeit wiederholten sie ihre Frage und bekamen dieselbe Antwort. Und so ging das Spiel fort die ganze Nacht hindurch bis zur frühen Dämmerung. Da fragten sie wohl zum zehntenmal, ob er noch nicht schliefe, und er antwortete wieder: »Noch nicht.« Die Tiere, die in der Tat nur darauf warteten, ihn zu fressen, konnten sich nun nicht länger beherrschen und ließen sich mit ihrem Nest gerade auf ihn herunterfallen. Glücklicherweise konnte der Mann eine sichere Entfernung gewinnen, bevor die Baumameisen sich zerstreuten und ihn verfolgten. Sie liefen hierhin und dorthin, um herauszufinden, welchen Weg er genommen hatte. Da rief ein kleiner Kolibri: »Gebt mir den Kopf! Gebt mir den Kopf!« Das ärgerte die Ameisen, denen ihr Opfer entwischt war, und als der Vogel fortfuhr, seine Bitte zu wiederholen, riefen sie ihm zu: »Was nützt es, den Kopf zu fordern, wenn wir nicht einmal den Körper haben!«

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 85.
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