[143] 47. Die große Schlange

[143] Man erzählt, daß ein Weib eines Tages in die Hütte eines verheirateten Mannes kam und bat, dableiben zu dürfen. Der Mann fragte sie:

»Was kannst du denn?«

»Ich kann spinnen,« antwortete sie.

»So spinne!« sagte er und gab ihr Baumwolle.

Die Frau blieb in seiner Hütte. Sie ließen sie dort allein und gaben ihr nichts zu essen. Da ging sie zu dem Hühnernest und nahm die Eier heraus, um sie auszusaugen. Die Schalen ließ sie ganz liegen, wie wenn sie nicht angebrochen wären.

Eines Tages kehrte der Mann aus dem Walde mit zwei Hokko-Eiern zurück. Er brach das eine auf und tat ein Menschenhaar hinein. Darauf machte sich die Frau daran, sie auszusaugen. Da schwoll ihr der Leib so sehr an, daß sie nicht mehr gehen konnte. Als der Mann aus dem Walde heimkehrte, sagte er zu ihr:

»Wir wollen Kuma pflücken, die ich in der Nähe gefunden habe.«

Man erzählt, daß es ihm aus dem Leib antwortete:

»Ich gehe mit dir, meine Mutter.«

Darauf sagten sie: »Was ist das?«

Wieder sprach der Leib:

»Ich gehe mit dir, meine Mutter.«

Der Mann ging mit ihr weg trotz ihres großen Leibes. Sobald sie zu dem Kuma-Baum kamen, sagte der Mann: »Wollen wir ihn niederhauen oder ersteigen?«

Da antwortete das, was in dem Leib der Frau war: »Ich steige hinauf!«

Darauf nahm der Mann die größte Kuma-Frucht, entfernte ihren Inhalt und füllte sie mit Speichel. Da kam aus der Frau, die da saß, eine Schlange heraus und stieg an dem[144] Baum in die Höhe. Sie war noch zur Hälfte in dem Leib der Frau, als ihr Kopf schon den Gipfel des Baumes erreicht hatte und gleichzeitig immer dicker wurde. Da sagte der Mann:

»Sobald sie ganz herausgekommen ist, stecke die Spitze des Schwanzes in die Schale der Kuma!«

Die Frau tat, wie ihr geheißen war. Dann flohen sie, indem der Mann die Frau auf seinem Rücken zur Hütte trug. Gleich darauf schrie die Schlange:

»Mutter! Mutter!«

Der Speichel antwortete an Stelle der Mutter:

»Uh! Uh! ...«

Sie kamen zur Hütte. Sofort steckte der Mann die Frau in einen Topf und warf Erde darauf. Die Schlange war auf der Spur der Mutter. Sie kam und rief und rief. Als die Mutter nicht antwortete, sprang die Tochter in den Fluß, aber sie fand keine genügende Tiefe. Da kam sie wieder hervor und stieg zum Himmel.

Die große Schlange rief den Mann und sagte:

»Mein Großvater, du hast meine Mutter versteckt. Jetzt gehe ich zum Himmel. Ich fand keinen Platz im Fluß. Wenn ich dich rufe, wirst du mir antworten. Wenn ich erscheine, magst du deine Pflanzung bestellen, weil dann der Sommer beginnt.«

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 143-145.
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