[199] 74. Die Zauberpfeile

[199] In einem Walde hausten zwei große Brüllaffen, welche die Menschen fraßen, deren sie habhaft wurden. Zwei Brüder machten sich auf, sie zu töten. Unterwegs sahen sie eine Kröte sitzen. »Wohin des Wegs?« fragte diese. – »Wir gehen, die Affen zu erlegen.« – »Wollt ihr mich zum Weibe nehmen, so sage ich euch, wie ihr euch zu verhalten habt; wenn nicht, so geht ihr dem sicheren Tode entgegen!« – Lachend schlugen die Brüder das Anerbieten aus und zogen weiter. Bald erreichten sie den Baum, auf dem, mit Schleuderpfeilen bewaffnet, die Affen saßen. Ringsum bleichten die Gebeine der Menschen, die ihnen zum Opfer gefallen waren. Die beiden Jünglinge hatten dieselben Waffen und eröffneten sofort den Kampf, aber geschickt bückten sich die Affen, und unschädlich flogen die Pfeile über sie hin. Nun gingen auch sie zum Angriff über. Bald fiel einer der Brüder, ins rechte, bald darauf der andere ins linke Auge getroffen, und die Affen bemächtigten sich ihrer Beute.

Zu Hause war ein dritter Bruder zurückgeblieben. Er war krank. Sein Körper war voll Wunden und Geschwüre. Nur seine Großmutter gewann es über sich, ihn zu pflegen. Einst ging auch er auf die Vogeljagd. Einer seiner Pfeile fiel vor einem Schlangenloch nieder. Die Schlange kam heraus und fragte: »Was machst du hier? Wie kannst du jagen, da du doch so krank bist?« – »Ja,« erwiderte er seufzend, »wohl bin ich krank und unglücklich; alles hat mich verlassen; meine Brüder sind tot, nur meine Großmutter erbarmt sich meiner und pflegt mich.« – Da sprach die Schlange: »Ich will dir ein Heilmittel geben, aber sage niemand, wer dir geholfen hat!« – So bestrich sie seinen ganzen Körper mit schwarzer Salbe. Als er nach Hause kam, fragte die Alte, wovon er so schwarz geworden[200] sei. »Ich bin unter die verkohlten Bäume geraten,« war seine Ausrede. Am folgenden Tage ließ er sich zum zweitenmal von der Schlange bestreichen und erzählte seiner Großmutter das gleiche. Am dritten Tage fühlte er sich gesund und beschloß nun, seinerseits auszuziehen, um seine Brüder zu rächen.

Die Schlange gab ihm einen Pfeil und sprach: »Mit dieser Waffe wirst du die Affen erlegen, die deine Brüder gefressen haben. Unterwegs wirst du einer Kröte begegnen, die dich auffordern wird, ihr zu Willen zu sein. Tue, als wenn du darauf eingingest und täusche sie!« – Als er zur Kröte kam, tat er, wie ihm geheißen war. Die Kröte ließ sich von ihm betören und riet ihm zum Lohn, die Affen zuerst schießen zu lassen und dann auf ihre Augen zu zielen.

So kam er an den Baum der Ungeheuer und sah die Gebeine seiner Brüder darunter liegen. Die Affen riefen ihm zu, zuerst zu schießen. Er aber wartete ruhig, bis die Gegner schossen, und traf dann erst den einen, darauf den anderen ins Auge. Die Affen stürzten, blieben aber mit ihren Schwänzen in den Ästen hängen. Auf den Rat der Kröte schickte er eine Eidechse, sie herabzuholen, was auch gelang.

Der Jüngling kehrte nun zur Schlange zurück, den glücklichen Ausgang seines Abenteuers zu melden. Diese aber gab ihm ein ganzes Bündel Pfeile, welche die Kraft besaßen, jedes Wild, nach dem man sie ausschickte, zu treffen und herbeizuholen. Auch Waldfrüchte, Honig usw. konnten die Pfeile liefern. Für jede Art Jagd war ein besonderer Pfeil bestimmt. Zu jedem gehörte noch ein besonderes Zaubermittel, in eine Kalabasse eingeschlossen, mit dem man die Wirkung allzu heftig zurückfliegender Pfeile abschwächen und diese zum Stillstand bringen konnte.

So verschaffte sich der junge Mann alle Arten Wild und Fische mit leichter Mühe. Bald darauf nahm er ein Weib, baute sich eine Hütte und legte eine Pflanzung an. Seiner Frau hatte er eingeschärft, daß niemand die Pfeile in seiner[201] Abwesenheit benützen dürfe, sonst würden alle Leute sterben. Dennoch wußte einst sein Schwager seine Frau zu überreden, ihm die Pfeile zu geben. Anfangs ging alles gut; der Schwein- und Fischpfeil taten das Werk und wurden durch das Zaubermittel zum Stillstand gebracht. Als aber der Honigpfeil zurückkam, erschien plötzlich ein großer, gespenstischer Kopf mit weitem, zahnbewehrtem Rachen. Voll Angst lief der Schwager fort, ohne an das Gegenmittel zu denken. Das Gespenst fiel nun über die Menschen her und tötete, wen es fand. Durch den Lärm herbeigerufen, kam der Mann aus der Pflanzung zurück, und es gelang ihm endlich, das Ungeheuer zu bannen. Aber das halbe Dorf war bereits tot.

Nochmals ging er zur Schlange, ihr sein Leid zu klagen. – »Dir ist recht geschehen,« erwiderte sie, »aber was ist zu ändern! Laß uns morgen zusammen auf die Jagd gehen, den Piraruku zu erlegen. Wenn dich aber eine von meinen Töchtern anstößt, so sollst du es mir sagen!« – Des andern Tages kam die Schlange mit ihrer ganzen Familie und traf die mit Netzen ausgerüsteten Karaja an der Lagune. Diese fischten, während der Mann mit der Schlange den Wald durchstreifte. Eine der Töchter hatte ihn unterdessen angerührt, aber er sagte nichts.

Nun verwandelte sich die Schlange in einen Piraruku und überredete den Mann, dasselbe zu tun. Beide gerieten in das Netz der Fischer. Die Schlange entkam durch ein Loch, der Mann aber wurde von den übrigen Karaja ans Land gezogen. Ein Mann versuchte ihn mit Keulenschlägen zu töten, er aber ergriff ihn und zog ihn unter Wasser, so daß jener die Keule fahren ließ. Als die Schlange sah, daß er ohne ihren Bei stand schließlich zugrunde gehen mußte, half sie ihm aus dem Netz heraus und entzauberte ihn. »Das war die Strafe,« rief sie, »daß du nichts gesagt hast, als meine Tochter dich anrührte!«

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 199-202.
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