[222] 81. Der Jaguar und der Ameisenbär

Der Ameisenbär begegnete dem Jaguar. Da sagte der Ameisenbär: »Wir wollen uns erleichtern, mein Freund, mit geschlossenen Augen!« Sie schlossen die Augen und erleichterten sich. Während der Jaguar die Augen geschlossen hatte, legte der Ameisenbär dessen Haufen sich unter. Seinen eigenen Haufen legte der Ameisenbär dem Jaguar unter. Nachdem er sie schön zurechtgelegt hatte, sagte der Ameisenbär: »Laß uns die Augen aufmachen!« »Laß uns unsere Haufen besehen!« sagte der Ameisenbär zum Jaguar. Der Ameisenbär rief aus: »Ich habe Fleisch gegessen!« Der Ameisenbär sagte zum Jaguar: »Du hast Termiten gegessen!« – »Termiten esse ich nicht!« sagte der Jaguar zum Ameisenbär.

Der Tapir kam dahin, wo sie sich erleichterten. Als der Jaguar den Tapir sah, forderte er den Ameisenbär auf, er solle doch gehen und den Tapir töten. Daraufhin ging der Ameisenbär auf die Spur des Tapirs. Gar nichts tötete der Ameisenbär. Darauf ging der Jaguar, den Tapir zu töten. Er tötete den Tapir wirklich. Der Ameisenbär war indessen, Termiten essend, weiter gegangen und kehrte erst zurück, als der Tapir tot war. »Wohin ist denn der Tapir gegangen, mein Freund?« fragte der Jaguar den Ameisenbär. »Ich habe ihn nicht gesehen,« antwortete dieser. »Hast denn du ihn nicht gesehen?« sagte der Ameisenbär zum Jaguar und[222] fuhr fort: »Ich esse kein Fleisch, ich esse stets Termiten; Fleisch esse ich nicht!« – »Ich habe ihn getötet,« sagte der Jaguar. Der Jaguar weidete den Tapir aus und gab den Kot des Tapirs dem Ameisenbär. »Zünde Feuer an, mein Freund!« sagte der Jaguar. Der Ameisenbär zündete Feuer an. Der Jaguar stellte den Bratrost auf und briet.

»Ich habe Durst,« sagte der Ameisenbär. »Wasser gibt es hier nicht!« sagte der Jaguar. »Wohl gibt es,« sagte der Ameisenbär, »es sind dort wilde Buritipalmen.« Der Ameisenbär ging; er ging weit, aber Wasser fand er nicht. Da ließ er sein Wasser, trank es und wusch sich auch damit. In seinem Wasser fand er ein Lambare-Fischchen. Er ging zum Lagerplatz zurück, und als er ankam, fragte der Jaguar: »Hast du Wasser getrunken, mein Freund?« – »Ich habe getrunken,« sagte der Ameisenbär. »Sieh den Lambare, den ich gefangen habe!« – »Auch ich gehe trinken. Ist es weit?« – »Es ist ein bißchen weit,« sagte der Ameisenbär. Der Jaguar ging, Wasser zu trinken. Als er schon weit gegangen war, rief er: »Wo ist das Wasser, wo?« – »Weiterhin! Weiterhin!«

Als der Ameisenbär den fernen Jaguar nicht mehr hörte, legte er den Tapirbraten in eine Kiepe hinein und kletterte auf einen Jatoba-Baum. Der Jaguar kam zum Bratrost zurück; da gab es keinen Tapirbraten mehr. Der Jaguar ging auf der Spur und sah den Ameisenbär oben auf der Jatoba. »Komm, wir wollen essen!« sagte der Jaguar zum Ameisenbär. Der Ameisenbär aß den Tapir, und die Tapirknochen warf er dem Jaguar zu. Der Jaguar rief die Beißameisen. Die Beißameisen kletterten auf die Jatoba. Aber der Ameisenbär blies.


81. Der Jaguar und der Ameisenbär

Da gingen die Beißameisen wieder fort. Nun rief der Jaguar den Wind. Der Wind kam, den Baum zu brechen. Er kam zum Ameisenbär und entwurzelte die Jatoba. Die Jatoba stürzte. Der Ameisenbär entfloh.[223] Wohl packte der Jaguar zu, aber er ergriff nur ein Termitennest, das auf der Jatoba saß.

Der Jaguar machte sich auf den Weg und suchte. Endlich traf er den Ameisenbär, wie er Termiten aß. Der Ameisenbär hatte sich eine Glatze geschoren. »Du, mein Freund, meinen Braten hast du gegessen!« – »Deinen Braten?« sagte der Ameisenbär, »deinen Braten aß ich nicht!« – »Gerade du hast meinen Braten soeben aufgegessen,« sagte der Jaguar zum Ameisenbär. »Einer, der mir ähnlich sieht, hat ihn gegessen. Matawiwe (ein kleiner Ameisenbär), der hat deinen Braten gegessen,« sagte der Ameisenbär. »Habe ich etwa so ausgesehen?« fragte der Ameisenbär. »Du willst mich betrügen. Du hast dir eine Glatze geschoren,« sagte der Jaguar.


81. Der Jaguar und der Ameisenbär

Nun sagte der Ameisenbär: »Laß uns ordentlich tanzen, mein Freund!« – »Wir wollen das Tanzen bleiben lassen,« sagte der Jaguar. »Aber, so laß uns nur tanzen!« sagte der Jaguar. Zuerst trug der Jaguar den Ameisenbär. Dann trug der Ameisenbär den Jaguar. Wieder trug der Jaguar den Ameisenbär. Da riß der Ameisenbär dem Jaguar die Augen aus und entfloh.

Das Aguti fand die Augen und setzte sie dem Jaguar wieder ein. Als seine Augen eingesetzt waren, stand der Jaguar auf und ging dahin, wo der Ameisenbär gegangen war. Der Ameisenbär war im Berg drinnen und sang. Der Jaguar ging in das Haus hinein. Singend kam der Ameisenbär mit dem Rücken auf die Tür zu. Wie er kam, packte ihn der Jaguar. Er aß von seinem Bein. Als er gegessen hatte, ließ er los und ging nach Hause. Den Ameisenbär machten die Termiten gesund. Als er geheilt war, erhob sich der Ameisenbär.

Der kleine Ameisenbär sagte, er werde den Jaguar töten. »Ach was, du bist kein Riese,« erklärten ihm die Leute. »Dann nimm Zaubergift mit!« sagten ihm die Leute. Wie sie gesagt hatten, tat der kleine Ameisenbär; er nahm Zaubergift[224] in einem Kürbis mit zu dem Hause des Jaguars und legte den Kürbis vor die Tür. Der Jaguar ging aus. Als er den Kürbis erblickte, sagte er: »Da ist etwas Hübsches für mich« und öffnete ihn. Da wurde der Jaguar krank und starb.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 222-225.
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