[225] 82. Der Welt Anfang

Im Anfang lag diese Welt in Finsternis. Aus der Finsternis gingen zwei Menschen hervor, der eine genannt Karusakahiby, und der andere war sein Sohn, Rairu genannt. Rairu strauchelte an einem Stein, der ausgehöhlt war wie eine Schüssel, und zankte mit dem Stein. Karu, sein Vater, befahl dem Sohne Rairu, den Stein zu tragen, mit dem er gezankt hatte. Rairu führte den Befehl des Vaters aus und trug den Stein auf dem Kopfe. Der Stein begann über ihm zu wachsen. Da er schon sehr schwer war, sagte Rairu zum Vater: »Dieser wiegt schon schwer.« Der Stein wuchs noch mehr, und Rairu konnte schon nicht mehr gehen. Der Stein fuhr fort zu wachsen. Er wuchs so sehr in Gestalt einer Schüssel, daß er den Himmel bildete. Darauf erschien die Sonne am Himmel.

Karu war seinem Sohne feind, da dieser mehr wußte als er. Eines Tages schoß Karu einen Pfeil in das Blatt einer Tukuma-Palme und befahl seinem Sohne, den Baum zu ersteigen und den Pfeil zu holen, denn er wollte ihn töten. Als der Sohn zur Tukuma-Palme kam, bogen sich die Stacheln alle nach unten, um ihn nicht zu verletzen. Er kletterte hinauf und zog seines Vaters Pfeil aus dem Blatt.

Am anderen Tag schickte er den Sohn voraus in die Rodung, und man erzählt, daß er alle Bäume umhieb, um seinen Sohn zu töten. Dann stürzte er alle Bäume über den Sohn. Sie fielen alle über ihn, aber er starb nicht und blieb unverletzt.[225]

Karu entfernte sich von dort. Er dachte, sein Sohn sei tot. Am anderen Tag kehrte er zurück und fand den Sohn wohlauf.

Als Karu ging, die Rodung zu brennen, schickte er seinen Sohn mitten in die Rodung, um ihn durch Feuer zu vernichten. Karu umgab seinen Sohn mit Feuer. Rairu sah, daß die Flammen ihn umzingelten. Da drang er in die Erde ein, und als die Rodung ausgebrannt war, erschien er wieder, ohne daß ihm das Feuer etwas angetan hatte. Karu ärgerte sich sehr, als er sah, daß sein Sohn noch lebte.

Eines Tages ging Karu wieder in den Wald. Dort machte er aus trockenen Blättern die Figur eines Gürteltiers und begrub sie so in der Erde, daß der Schwanz noch hervorsah. An diesen strich er Harz. Er rief seinen Sohn und sprach zu ihm: »Wir wollen jagen gehen!« – »Vorwärts!« – Er ging hin und her durch den Wald und rief seinem Sohn: »Hier ist ein Gürteltier; ziehe es hervor!« – Die Figur jenes Gürteltiers hatte schon ein Loch in die Erde gegraben. Rairu ließ den Schwanz des Gürteltiers los, aber er konnte seine Hand nicht wegziehen, weil das Harz sie festhielt. Man erzählt, daß nun die Figur des Gürteltiers ihn durch das Loch in die Erde zog, in der er verschwand.

Am anderen Tag kam Karu zu dem Loch und sah seinen Sohn herauskommen. Da ergriff er einen Stock und schlug den Sohn.

Dieser sagte: »Schlage mich nicht, denn ich habe in der Erde viele Leute gefunden, die mehr als gut sind. Sie kommen, um für uns zu arbeiten.« – Der Vater ließ ab und schlug ihn nicht mehr. Er ballte etwas in eine Kugel und warf es auf den Boden, und es wuchs und verwandelte sich in Baumwolle. Die Baumwollstaude wuchs und blühte sogleich und trug darauf Baumwolle. Karu nahm die Baumwolle und machte ein Seil daraus, band Rairu daran und ließ ihn in das Loch des Gürteltiers hinab. Sie erzählen, daß an dem Seile und aus der Öffnung viel häßliches Volk emporkam. Darauf stiegen auch viele schöne[226] Leute empor, und sie sagen, daß darauf das Seil zerriß, und der noch übrige Teil der schönen Leute in die Öffnung fiel. Rairu stieg mit den schönen Leuten empor.

Sie erzählen, daß Karu, als er jene Masse Leute sah, etwas Grünes, etwas Rotes und etwas Gelbes machen ließ, um jene Leute mit ihren Weibern zu zeichnen, damit sie, wenn sie sich vermehrten, seien: Munduruku, Mura, Arara, Pamana, Uinamary, Manatenary, Ketauschy und so alle. Da es lange währte, bis all dies Volk bemalt war, wurden die einen schläfrig, und die anderen waren mehr als schlafend. Zu den Trägen sagte Karu: »Ihr seid sehr träge; jetzt sollt ihr Vögel, Fledermäuse, Schweine und Schmetterlinge werden.« – Den übrigen, die nicht träge und schön waren, sagte er: »Ihr werdet der Anfang einer anderen Zeit sein.« – Darauf verschwand Karu in der Erde. Da nannten sie jene Öffnung Karu-kupy.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 225-227.
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