35. Der Esel und das Kamel

[158] Ein Esel und ein Kamel lebten auf einem Feld, wo es ihnen sehr gefiel und sehr gut ging. Eines Tages, als sich der Esel satt gefressen hatte, wurde er ungemein lustig, und er bekam Lust zu singen. »Ich möchte gern ein Lied singen,« sagte er zum Kamel, »ich habe ungeheuer Lust ein Lied zu singen.« Das Kamel erschrak. »Tu's lieber nicht,« bat es, »es kommt gewiß ein Unglück, wenn du singst.« Aber der Esel hörte nicht darauf und ließ seinen Gesang erschallen. Eine Karawane, die nicht weit davon ihres Weges zog, hörte den[158] Gesang, fing Esel und Kamel, lud ihnen Lasten auf und trieb sie weiter.

Der Esel aber wurde bald furchtbar müde. Als die Kaufleute sahen, daß er nicht mehr weiter konnte, legten sie ihn mitsamt seiner Last auf das Kamel. Kurz darauf kamen sie in den Bergen an einen Pfad, der an einem steilen Abgrund dahinführte. »So,« dachte da das Kamel, »jetzt kommt die Abrechnung«, und laut fügte es hinzu: »Ich habe Lust zu tanzen, ja, wirklich, ich kann gar nicht anders.«

»Um Gottes willen! Du wirst doch hier nicht tanzen, ich falle ja 'runter.«

Aber das Kamel hatte taube Ohren. Und kaum hatte es die ersten Schritte getanzt, als der Esel herunterflog in den Abgrund hinab.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 158-159.
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