45. Der Wolf, der Fuchs und das Kamel

[172] Ein Wolf, ein Fuchs und ein Kamel hatten Freundschaft geschlossen und miteinander ausgemacht, daß sie die gefundene Beute in gleiche Teile teilen wollten. Nach langem Suchen fanden sie endlich ein Brotlaibchen. Da sie alle sehr hungrig waren und beim Teilen nur ein winziges Stückchen für jeden herausgekommen wäre, kamen sie überein, daß der älteste von ihnen das Laibchen bekommen solle.

»Ich bin der einzige Wolf, den Noe zu sich in die Arche lud; alle andern kamen bei der Sintflut um. Her mit dem Brot; ich bin der älteste!« sagte der Wolf.

»Nur langsam!« entgegnete der Fuchs, »was lügst du denn so unverschämt? Du warst ja noch gar nicht auf der Welt, als Gott mich, den ersten Fuchs erschuf; wie oft haben mir Adam und Eva den Rücken gestreichelt und mich das Muster eines klugen Tieres genannt!«

»So, aber warum hab' ich dich dann in der Arche nicht gesehen?« frug der Wolf.

»Darum, weil ich zu Füßen Noes lag. Er ließ mich gar nicht in die Abteilung der Tiere hinein.«

Der Wolf schwieg. Das Kamel aber, das keine Worte gefunden hatte, um sein Alter zu beweisen, faßte den Brotlaib, hob den Kopf und sagte: »Ich sehe, ihr haltet mich für ein kleines Kind. Wo glaubt ihr denn, daß ich damals war?« Sprach's und aß das Brot, und der Wolf und der Fuchs schauten verwundert zu.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 172.
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