61. Swanetisch

[238] Von der Höhe des Jalbus (Elbrus) herab ertönten jeden Abend mit Eintritt der Dämmerung verzweifelte Schreie eines Wesens, die dem Schmied Daredjiani, der am Fuße dieses Berges lebte, keine Ruhe ließen. Er konnte nicht begreifen, woher dieses Geschrei kam. Als ihn die Neugierde immer stärker packte, schmiedete er sich ein Brecheisen und[238] eine Hacke und stieg auf den Jalbus. Es wurde ihm sehr schwer, den steilen Berg emporzuklimmen, aber er half sich mit Stemmeisen und Hacke. Endlich kam er auf den Gipfel, sah sich um und sah tief unten in einem Abgrund ein schönes Weib liegen, das weinte und schrie. Um sie herum lagen Haufen von Gold und Silber. Ohne sich lange zu besinnen, stieg der Schmied hinunter und frug das Weib, warum sie so weine und schreie. Sie erzählte ihm, sie sei die Frau Gottes, der sie wegen eines Verbrechens in diesen Abgrund geworfen habe. Von da an besuchte Daredjiani sie öfters. Und sie wurde von ihm schwanger.

Inzwischen schöpfte die Frau des Schmiedes wegen seiner häufigen Abwesenheit Verdacht. Eines Tages folgte sie ihm heimlich und war Zeugin seines Verhältnisses zu der Frau in dem Abgrund. Von diesem Tage an beschloß die Frau des Schmiedes, sich an ihrer Nebenbuhlerin zu rächen. Irgendwie erfuhr sie, daß deren ganze Kraft und Verführung in ihren üppigen Haaren liege, die in dichten Flechten ihren ganzen Körper bedeckten. Als nun die Schöne einmal tief eingeschlafen war, stahl sich die Schmiedin an sie heran und schor sie. Wie die Schöne nun aufwachte und sah, was geschehen war, rief sie den Schmied zu sich und sagte ihm, sie müsse nun bald sterben, er möge ihr den Bauch aufschneiden und das Kind herausnehmen. Der Schmied wollte aber nicht. Da schnitt sich seine Geliebte selbst den Leib auf, zog das Kind heraus und gab es ihm mit den Worten: »Nimm es und lege es auf einen Kreuzweg; es wird von selbst wachsen.«

Der Schmied erfüllte den Befehl. Da kamen eines Tages Jesus Christus, der heilige Georg und ein Engel des Wegs und sahen das Kind liegen. Sie tauften es und gaben ihm den Namen Amiran. Dabei sagten sie: »Wenn Amiran dreimal sein Wort bricht, gerät er in die Macht des Teufels.« Dann gingen sie weiter; Amiran aber wuchs von da an nicht nur täglich, sondern stündlich. In kurzer Zeit war er erwachsen und furchtbar stark geworden.[239]

Einmal traf er auf seinem Wege einen Zug: ein Wagen fuhr da, den zwölf Paar Ochsen zogen, und auf dem Wagen lag ein riesiger Sarg, im Sarg ein Recke und sein einer Fuß schleifte auf der Erde nach und grub tiefe Furchen in diese, und die Leute, die dem Sarge folgten, bemühten sich vergebens, den Fuß in den Sarg zu legen. Es zeigte sich, daß der Recke, als er sich krank und sein Ende nahe fühlte, selbst in den Sarg sich legte, weil er wußte, daß niemand dazu imstande wäre. Amiran näherte sich, faßte den Fuß mit einer Hand und stieß ihn in den Sarg hinein. Des freute sich der Recke und sagte: »Gib mir deine Hand, Brüderchen!« Aber Amiran gab ihm einen Stein statt der Hand. Der Recke zermalmte ihn zu Staub und wiederholte seine Bitte. Diesmal reichte ihm Amiran ein Eichenbrett, das der Recke zu Spänen zerdrückte. Endlich gab ihm Amiran die Hand. »Deine Hand möge vertrocknen, wenn du meine beiden Söhne nicht aufziehst«, sagte der Recke.

Amiran suchte die Söhne auf und erzog sie. Sie wuchsen rasch und wurden stark. Oft ging Amiran mit ihnen auf die Jagd. Wahrend einer solchen geschah es einmal, daß Amiran fest einschlief. Die beiden jungen Leute bewachten seinen Schlaf. Auf einmal erschien, wer weiß woher, eine große Menge von Tieren und umstellte den schlafenden Amiran. Die beiden Jungen aber schoßen ihre Pfeile auf sie ab und töteten sie alle. Als Amiran aufwachte und die große Blutlache sah, dachte er: »Na, die beiden Wackern werden mich selbst einmal umbringen,« und ohne weiter zu überlegen, tötete er sie beide. Das war aber ein Wortbruch und von dem Augenblick an verfolgten ihn die Teufel.

Wieder einmal ging Amiran auf die Jagd. Als er müde war, legte er sich schlafen und das Wunderpferd Raschi bewachte ihn. Da kamen die Teufel; Raschi weckte den Schlafenden, aber ehe dieser aufwachte, waren die Teufel schon wieder verschwunden. Aber Amiran glaubte sich[240] von Raschi betrogen und schlug das Tier. »Von jetzt an werde ich dich nicht mehr wecken und wenn die Teufel dich auch auffressen«, sagte Raschi. »Das hab' ich im Jähzorn getan,« antwortete Amiran, »ich werde dich nicht mehr schlagen.« Dann schlief er wieder ein. Von neuem krochen die Teufel aus den Büschen hervor und umstellten Amiran. Raschi weckte ihn und wieder waren sie verschwunden, ehe Amiran ordentlich aufwachte. Er vergaß sein Wort und verabreichte Raschi zum zweiten Male Schläge. Das war der zweite Wortbruch. Bald folgte auch der dritte und dann bekamen die Teufel volle Macht über ihn. Sie forderten ihn zum Kampfe auf. Zwar erschlug er ihrer eine große Anzahl, aber schließlich ermattete er so, daß er sich nicht mehr rühren konnte. Die drei übrig gebliebenen banden ihm Hände und Füße, trugen ihn auf den Gipfel des Jalbus, warfen ihn in einen Abgrund und fesselten ihn mit einer schweren Kette an einen eisernen Pfahl. In der Nähe legten sie sein Schwert nieder, aber so, daß er es nicht erreichen konnte. Ihm gegenüber banden sie an denselben Pfahl einen neunköpfigen Div, der sich gleichfalls vergeblich bemüht, nach dem Schwerte zu langen. Wer es zuerst fassen kann, wird Sieger. Aber sie können es erst dann erlangen, wenn ihnen die Nägel gewachsen sind. Die Swanen wünschen, daß Amiran das Schwert bekomme und darum beschneiden sie sich die Nagel an den ersten vier Tagen der Woche nie. Aber – wenn Amirans Nagel so lang geworden sind, daß er sein Vorhaben ausfuhren könnte, dann tut ein Vogel, der ihn überwacht, dies den Teufeln kund. Die kommen dann und beschneiden ihm die Nägel.

Doch es kommt die Zeit, wo Amiran sein Schwert wird fassen können. Dann erschlägt er den Div, wird frei und für Swanetien und alle andern christlichen Länder bricht dann das goldenene Zeitalter an.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 238-241.
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