Dreizehnte Erzählung.

[155] Es waren einmal vier Jünglinge, die einen Freundschaftsbund geschlossen hatten. Der Eine derselben war ein geschickter Holzglätter, der Zweite wußte auf die vorbereitete Tafel die Figur eines hübschen Mädchens zu zeichnen, der Dritte verstand sie einzugraben und der Vierte zu beleben. Als nun das Mädchen sich erhob, war sie von reizender Form und verführerisch anzuschauen. Es entstand deshalb ein Streit unter den Jünglingen über ihren Besitz und wem würde sie von rechtswegen als Gattin zuzusprechen sein? »Laßt uns hören, Madame Nachtlampe, wie Sie diesen Fall entscheiden würden?« Die Nachtlampe erwiederte: »Oh, das ist klar und deutlich, sie gehört dem, der sie belebte.« Der Prinz lächelte und sagte: »Die Nachtlampe rühmte sich vorher, Alles zu wissen und die beständige Begleiterin Ihrer königlichen Hoheit, der Prinzessin, zu sein. Aber wie könnte sie dann sich so versehen und eine solche falsche Ausdeutung eines Räthsels geben?« Als die Prinzessin diese Worte hörte, riß ihr die Geduld und sie sagte ärgerlich: »Fi über Dich, Du Lampe, wie kannst Du solchen Blödsinn schwatzen? Der berechtigte Eigenthümer des Mädchens ist derjenige, der sie in das Holz eingegraben hat, denn er hat sie berührt und ihren Körper in seinen Händen gehabt. Seine Frau muß sie werden.« Dann in ihrem Zorn stieß die Prinzessin die Lampe mit ihrem Fuß, daß sie über und über purzelte. Als die Leute, die in dem Thurm wachten, die Stimme der Prinzessin und die gepflogene Unterhaltung hörten, ließen sie die Musik erschallen. Sie stießen in die Posaunen, rührten die Trommeln und bliesen die Trompeten. Und als Seine Majestät der König die festlichen Töne hörte, fühlte er sein Herz von Freude erfüllt.

Als die Nacht bis zur dritten Wacht fortgerückt war, fing der Prinz aufs Neue an, sich mit seinem Milchbruder zu unterhalten und sagte: »Die Lampe war unfähig mein Räthsel zu lösen und ist gezüchtigt worden, wie es sich gehört. Im Falle ich eine andere Geschichte erzählte, wer würde bereit sein, die Ausdeutung zu unternehmen?« Der Milchbruder beschwor seine Seele und ließ sie in den goldenen Spucknapf fahren. Alsobald begann der Spucknapf auszurufen und sagte: »Ich, mein hoher Herr, bin Wohl bewandert in allen Ränken und Schlichen. Da ist Nichts so verwickelt und so fein, daß ich es nicht zu entwirren und zu lösen wüßte. Ich bin die Sklavin Ihrer königlichen Hoheit und ich bitte um die Erlaubnis, Eure Räthsel errathen zu dürfen.« Der Prinz erzählte dann dem Spucknapf die folgende Geschichte:

Quelle:
Bastian, Adolf: Ein siamesisches Märchen. In: Globus # (Sept. 1866), S. 155.
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