IX. Erzählung.

[46] Als er darauf in der nämlichen Weise wie früher abermals die stolz lautenden Worte gesprochen, kam Siddhi-k ýr wieder herabgestiegen. Er steckte ihn in seinen Sack, band diesen mit dem Seile fest, verzehrte seinen Kuchen und wandelte, den Todten auf dem Rücken tragend, seines Weges dahin. Siddhi-k ýr wiederholte dieselben Worte wie früher; der Chânssohn aber, ohne etwas zu erwiedern, gab mit seinem Haupte das Zeichen, worauf Siddhi-k ýr abermals zu erzählen begann.

Früh vor Zeiten herrschte in einem grossen Reiche, das Ikšvâkuvardhana hiess, ein Chân, der den Beinamen »der Erleuchter (Civilisator)« führte. Nach dem Hinscheiden dieses Chânes kam dessen Sohn zur Regierung, ein holder Jüngling von gar reizender Schönheit, mit der Fülle der Macht und des Glanzes ausgestattet. Er hatte die Tochter eines Chânes der Südgegend zur Frau genommen. Doch der Chânssohn liebte diese Frau nicht. In der Entfernung einer Meile von da[46] hatte ein Familienvater eine an Wuchs und Gestalt vollendete, reizend schöne Tochter. Zu dieser hatte der Chânssohn eine glühende Liebe gefasst und nachdem er sie lange und beständig besucht, war das Mädchen schwanger geworden. Da schied der Chân in Folge einer schweren harten Krankheit aus dem Leben. Allein das Mädchen erfuhr nichts davon, dass es mit dem Chân also gekommen. Einstmals des Nachts, als es dunkel geworden, klopfte es beim Strahle des Mondes an der Thüre des Mädchens. Als das Mädchen mit verklärtem Antlitz aufschaute und sich umsah, war der Chânssohn erschienen, der sich aber seines gewöhnlichen Anzuges entledigt hatte. Sie empfand eine gar herzliche Freude. Sie gieng ihm zum Willkomm entgegen, geleitete ihn an der Hand und liess ihn in das Zimmer eintreten. Nachdem er Reisbranntwein und Brot und anderes dergleichen, das sie vorsetzte, zu sich genommen hatte, sprach er: »Komm, Gemahlin, heraus,« und als sie ihm gefolgt war, rief er wieder: »Komm weiter her.« Indem er aber durch seine Reden sie nach und nach immer weiter lockend sich hatte folgen lassen, waren sie bis in die Nähe der Königsburg gekommen. Aus dem Innern der Burg drang der laute Schall der Becken und Pauken rauschend hervor. Da fragte das Mädchen den Chân: »Was hat das zu bedeuten?« Er antwortete: »Weisst du das nicht? nun das sind diejenigen, die mein Todtenopfer veranstalten!« »Das Todtenopfer veranstalten? Was ist denn dem Chânssohn begegnet?« »Er ist gestorben. Du wirst aber jetzt,« fuhr er fort, »von einem Sohne entbunden werden. Bei der Entbindung sollst du in meinem Elephantenstall gebären. Im Palaste sind meine Mutter und die Gemahlin wegen eines Edelsteins mit einander im Streit. Dieser Edelstem aber liegt unter einem Opfertische verborgen. Gib ihn der Gemahlin und schicke diese zu ihren Verwandten zurück. Die Mutter und du, ihr beide sollt, bis der Sohn herangewachsen, inzwischen die Zügel der Regierung ergreifen.« Nach diesen Worten verschwand er im Winde.

Das Mädchen aber gerieth in grosse Betrübniss und fiel ohnmächtig nieder. Als sie von der Ohnmacht sich erholend wieder zu sich kam und sich erhob, rief und schrie sie in einem fort: »Chân, Chân!« Da sich aber die Geburtswehen bei ihr einstellten, begab sie sich in den Elephantenstall und gebar in dieser Nacht einen Sohn. Des Morgens als die Elephantenwärter kamen, sprachen sie: »Wahrlich, dass in des Chânes Elephantenstall eine Frau niederkommt, das ist nicht in der Ordnung! Das kann für die Elephanten hinderlich werden.« Die[47] Frau aber sprach zu einem von ihnen: »Du geh hin und ersuche die Mutter des Chânes hieher zu kommen, ein Wunder ist geschehen.« Dem gemäss berichtete jener der Chânin und die Chânin machte sich auf und erschien. Die Frau erzählte ihr den ganzen Hergang. »Ah,« rief die Chânin aus, »bei dem Mangel an Nachkommenschaft ist das ja ganz erstaunlich; lass uns nach Haus uns begeben.« Und so nahm sie die Frau mit, pflegte dieselbe ganz sorgsam und erwies ihr alle Hochachtung. Und weil jener Edelstein sich an der Stelle befand, wie die Frau gesagt, so schenkte ihr die Chânin Vertrauen, gab der früheren Gemahlin den Edelstein und liess dieselbe zu ihren Verwandten zurückkehren. Die Mutter sowie die spätere Gemahlin wirkten nun beide zusammen an der Emporbringung des Reiches.

Jeden Monat am fünfzehnten in der Nacht kam der Chân zu der Gemahlin und verweilte bei ihr, bis die Nacht zu Ende war; nach Tagesanbruch pflegte er zu verschwinden. Dieses erzählte sie seiner Mutter. Die Mutter sprach: »Das ist eine Lüge; wenn es wahr ist, so weis mir ein Zeichen vor.« Indem sie in Folge dessen ein aufbewahrtes Zeichen vorwies, war die Wahrheit ersichtlich. Darauf sprach die Mutter: »Sieh zu, Tochter, ob es nicht ein Mittel gibt, uns beiden, Mutter und Sohn, die Gelegenheit zu verschaffen einander zu sehen.«

Als am fünfzehnten in der Nacht der Chânssohn erschienen war, sprach die Frau: »Dass wir jeden Monat am fünfzehnten in der Nacht uns sehen, das ist gut; allein dass wir nicht für beständig vereint mit einander uns freuen, das ist, wenn ich es sagen darf, gar betrübend.« Bei diesen Worten brach sie in Thränen aus. Der Chân sprach: »Wenn du den Muth hättest ein Wagestück zu unternehmen, so würde ein beständiges Zusammensein wohl möglich sein; doch da die Ausdauer eines Weibes nur schwach ist, so ist es schwer.« Die Frau versetzte darauf: »Ein Wagestück zu unternehmen verstehe ich schon; wenn in diesem Leben ein beständiges Zusammensein mit dir im Genüsse gemeinschaftlichen Glückes möglich wäre, so überwinde ich alles, sollten selbst des Körpers Fleisch und Knochen darüber auseinandergehen.« »Nun denn,« sprach der Chânssohn, »wenn du künftigen Monats am fünfzehnten in der Nacht, wann der Mond sein Licht verbreitet, in der Südgegend eine Meile weit gehst, so weilt daselbst ein eiserner Alter, der, nachdem er geschmolzenes Metall getrunken, ausruft: ›ach, was hab' ich für einen Durst!‹ Dem gib Reisbranntwein. Etwas weiter von da befinden sich zwei Widder, die auf einander[48] losstossen; diesen gib Hefenkuchen. Schreitest du weiter von da, so findest du eine Schaar von mit Panzern Bewaffneten; diesen gib Fleisch und Kuchen. Wenn du wieder dich weiter begibst, so findest du ein fürchterlich grosses schwarzes Gebäude, dessen Boden mit Blut getränkt ist; eine Fahne aus Menschenhaut ist daran aufgepflanzt; am Thore desselben stehen zwei blutige behaarte Diener des Höllenrichters; gib einem jeden von ihnen ein Opfer von Blut. Weiter im Innern dieses Gebäudes befindet sich in der Mitte eines von acht furchtbaren Zauberern gebildeten Kreises ein magischer Zauberkreis (Maṇḍala); dessen Rand ist von neun Herzen umgeben. ›Nimm mich, nimm mich,‹ werden die acht alten Herzen, ›nimm mich nicht,‹ wird ein neues Herz sagen. Sonder Furcht und Zagen nimm dieses neue Herz, und wenn du, ohne nach rückwärts umzuschauen, dich ungesäumt davon machst, dann ist es noch möglich, dass wir in diesem Leben für immer mit einander vereint bleiben.« Also sprach er.

Die Frau aber prägte sich diese Worte in das Herz. Am fünfzehnten in der Nacht, als der Mond sein Licht verbreitete, schritt sie, von niemanden bemerkt, behutsam der Südgegend zu, gab allen der Reihe nach den gebührenden Lohn und gelangte so in das Innere des Hauses. Als sie das neue Herz, welches ›nimm mich nicht!‹ rief, genommen und mit demselben eiligst die Flucht ergriff, es gar hoch aufhüpfen lassend, da jagten die Zauberer hinter ihr her und riefen den zwei das Thor hütenden Dienern des Höllenrichters zu: »An den Herzen ist ein Diebstahl begangen worden, haltet sie fest.« Doch die zwei sagten: »Diese hat uns ein Opfer von Blut gegeben,« und hielten sie nicht fest. Als sie dann der Schaar der Bewaffneten zuriefen sie festzuhalten, erwiederten sie: »Diese hat uns Fleisch und Kuchen gegeben« und hielten sie nicht fest. Und als sie hierauf den beiden Widdern zuriefen sie festzuhalten, so sagten sie: »Diese hat uns Hefenkuchen gegeben« und hielten sie nicht fest. Als sie endlich dem eisernen Alten zuriefen: »Dies Weib, das ein Herz entwendet, halt fest,« sprach er: »Diese hat mir Branntwein gegeben« und er hielt sie nicht fest. Die Frau aber lief furchtlos weiter und als sie, nach Hause gelangt, die Thüre des Châns öffnete und eintrat, da erschien ihr Gemahl der Chân in reizendem Schmuck, und indem sie sich so, wie sie es gewünscht, trafen, fielen sie in herzlicher Umarmung einander um den Hals.

»Die Frau hat sich wacker gehalten!« sprach bei diesen Worten der Erzählung der Chânssohn, und Siddhi-k ýr versetzte: »Sein Glück[49] verscherzend hat der Chân Worte entschlüpfen lassen,« und mit dem Ausruf: »In der Welt nicht zu bleiben ist gut!« wand er sich los.

Aus Siddhi-k ýr's Erzählungen das neunte Capitel: die Geschichte von der Frau, die das Herz entwendete.

Quelle:
Jülg, B[ernhard]: Kalmükische Märchen. Leipzig: F.A. Brockhaus, 1866, S. 46-50.
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