XX. Erzählung.
Der Fuchs, der Löwe und das Rind.

[35] Abermals folgte der auf gutem und glücklichem Wandel begriffene Chân hinter Siddhi-K ýr her und gelangte[35] in die Nähe des Mango-Baumes. Als er mit seiner Axt, »weisser Mond« benannt, den Fuss des Baumes umzuhauen begann, sprach Siddhi-K ýr: »Fälle meinen Baum nicht«. Nachdem er aber herabgestiegen war, hielt er es in der Art und Weise sieh aus dem Staube zu machen wie das erste Mal. Der Chân begab sich daher abermals in den kühlen Todtenhain, um Siddhi-K ýr zu holen. Während er dann mit ihm auf dem Rücken dahin wandelte, erzählte Siddhi-K ýr neuerdings folgende Geschichte.

Wieder einmal früh vor Zeiten hauste in Indiens Nordland auf dem Schneegebirge in einer Löwenhöhle eine Löwin. Nachdem sie eben ein Junges zur Welt gebracht hatte und nirgends etwas zu essen vorfand, war sie schon auf dem Punkte ihr Junges zu verzehren. Doch da sie es nicht über sich bringen konnte dasselbe zu opfern und zu verzehren, so machte sie sich auf, um in der Richtung zwischen einem Berge und der Ebene Nahrung zu suchen. Während nun die Rinder einer Heerde den Geruch der Löwin spürten und sich eiligst davon machten, war eine Kuh nicht geflohen. Die Löwin packte die arme Kuh, schlürfte ihr das Blut aus und schleppte Fleisch und Knochen mit sich fort. Das Kalb folgte ihr. Während die Löwin von dem Schlürfen des Blutes berauscht dalag, saugten ihr Junges und das Kalb zusammen an ihr. Weil sie berauscht war, hielt die Löwin alle beide für ihre Jungen und nährte sie. Nach einiger Zeit wurde die Löwin krank,[36] indem ihr der Knochen eines wilden Thieres im Halse stecken geblieben war. Als sie dem Tode nahe war, gab sie ihren zwei Jungen in ihrem Testamente noch folgende Lehre: »Ihr beide sollt friedlich mit einander leben; wenn ein Feind naht und eure Kraft von ihm durch unrechte und schlechte Mittel zu gewinnen gesucht wird, so dürft ihr seinen Worten kein Gehör schenken«. Darauf starb die Mutter. Der junge Löwe begab sich hierauf in einen Wald, das Kalb aber auf die Sonnenseite eines Berges. Zur Zeit des Wassertrinkens tranken sie gemeinschaftlich und pflegten dann mit Spielen zusammen sich zu unterhalten. Nach einiger Zeit fasste ein Fuchs, der seither dem Löwen gefolgt und vom Fleische der von ihm erlegten Thiere zu leben gewohnt war, einstmals als Löwe und Rind wieder mit einander zur Tränke gegangen waren, während des Trinkens den Entschluss, die beiden zu reizen und zu entzweien, indem er bei sich dachte: »Von des Löwen Beute habe ich bisher allein gezehrt; da nun dieses Rind gekommen ist, so müssen wir künftig mit einander von derselben zehren«. In solchen die Aufreizung beider bezweckenden Worten liess er sich aus. Eines Tages hatte der Löwe ein Thier ergriffen und begann es zu zerfleischen. Während er das Blut schlürfend so dalag, trat der Fuchs, ohne das Fleisch des vom Löwen ergriffenen Thieres anzurühren, zum Löwen hinzu, und da er seinen Schweif einziehend und seine Ohren hängen lassend so dastund, sprach der Löwe: »Fuchs, was ist dir geschehen? letze[37] dich doch an diesem Fleisch hier«. Der Fuchs erwiederte: »Wie könnte ich dieses Fleisch verzehren? du hast einen Feind; darüber grämt sich mir, deinem Oheim, das Herz«. Doch der Löwe versetzte: »Ich dürfte kaum einen Feind haben, verzehre das Fleisch nur ruhig«. Allein der Fuchs sprach: »Wenn du den Worten deines Oheims kein Gehör schenkst, so wirst du es später bereuen«, und legte sich nieder. »Nun, wer ist denn mein Feind?« fragte der Löwe. »Ein Rind dort muss es wohl sein«, sprach der Fuchs; »es sagt immer: ›der Löwe hat meine Mutter getödtet, jetzt will ich dafür den Löwen tödten‹«. »Wir beide sind ja zwei Brüder«, sagte der Löwe; »da ist für mich keine Gefahr«. Der Fuchs versetzte: »Weisst du denn nicht, dass du in Wahrheit die Mutter deines schlimmen Bruders getödtet hast?« Indem der Löwe bei sich dachte: »Dieser Fuchs ist ja doch wahrlich mein Oheim«, begann er weiter: »Wie will denn das Rind mich tödten? sag' es mir doch«, worauf der Fuchs antwortete: »Wenn morgen früh das Rind aufsteht und mit den Hörnern die Erde aufwühlt, sich ausstreckt, den Schwanz hängen lässt und in einem fort brüllt, so ist dies das Zeichen, dass es dich tödten will«. Der Löwe, Argwohn fassend, sprach: »Nun, wenn das der Fall ist, so werde ich auf der Hut sein«.

Darauf begab sich der Fuchs auch auf des Berges Sonnenseite und trat zu dem Rinde, das sich eben gelagert hatte, nachdem es am Grase sich gesättigt. Indem er den Schweif einziehend, die Ohren hängen lassend[38] und weinend vor ihm stand, sagte das Rind: »Fuchs, was ist dir geschehen?« »Mein Mütterchen«, sprach der Fuchs, »weil du einen Feind hast, desshalb gräme ich, dein Oheim, mich so und muss weinen«. Doch das Rind sprach: »Ich habe durchaus keinen Feind, der mir etwas anhaben könnte«, worauf der Fuchs versetzte: »Auf des Berges Rückseite haust ein Löwe; der sagt: ›früher hat meine Mutter seine Mutter zerfleischt, jetzt will ich ihn zerfleischen‹«. »Da sei du nur ganz ruhig«, erwiederte das Rind, »wir beide sind zwei Brüder; er wird gegen mich keine Feindseligkeit beginnen«. Allein der Fuchs sprach: »Wenn du jetzt meinen Worten kein Gehör schenkst, so wirst du es später bereuen«. »Du bist doch wahrlich mein Oheim«, versetzte das Rind; »nun, wenn die Sache so steht, wie will denn der Löwe mich tödten? sag' es mir doch«. Da sprach der Fuchs: »Wenn morgen früh der Löwe aufsteht und sich ausreckt, seine Mähnen emporschüttelt, seine Klauen ausstreckt und mit den Füssen die Erde in einem fort aufwühlt, so ist dies das Zeichen, dass er dich tödten will«. »Wenn das so ist«, sprach das Rind, »so will ich auf der Hut sein«.

Den andern Tag in der Frühe, als sie aufstunden und einander beobachteten, da zeigte sich alles so, wie der Fuchs es gesagt. In Folge dessen erhob sich in beiden der Groll, und als sie um Sonnenaufgang beide zu gleicher Zeit eintreffend Wasser zu trinken gekommen waren, Hessen sie, weil jedes von beiden beim Aufstehen[39] seine besondere Art hatte und eines des andern Gewohnheit nicht kannte, von den aufreizenden Worten des Fuchses sich hinreissen. Da machte der Löwe mit voller Wucht einen Satz und packte das Rind am Hals, das Rind dagegen fuhr gleichzeitig mit seinen Hörnern dem Löwen zwischen die Füsse empor. Auf diese Weise giengen alle beide, der Löwe und das Rind, zu Grunde. Bei dieser Gelegenheit liess sich eine geheimnissvolle Stimme vom Himmel vernehmen: »Man darf nie schlechten Freunden trauen; sehet, wie der Fuchs, als der Löwe und das Rind dem schlechten Freunde trauten, sie beide entzweit hat!«

»So hat also der böse Fuchs zwei theure Brüder entzweit!« rief bei diesen Worten der Erzählung der mit Glück und Wohlstand gesegnete Chân, und Siddhi-K ýr versetzte: »Sein Glück verscherzend sind dem Munde des Chânes Worte entschlüpft!« und mit dem Ausruf: »In der Welt bleibe ich nicht!« flog er durch die Lüfte davon.

Quelle:
Jülg, Bernhard: Mongolische Märchen. Innsbruck: Verlag der Wagnerschen Universitäts-Buchhandlung, 1868, S. 35-40.
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