Die Stammmutter der Ainoß.

[167] Einst lebte ein König in der Nähe des großen Meeres und beherrschte dort ein mächtiges Reich. Er hatte drei schöne Töchter, auf die er sehr stolz war; die jüngste aber war die allerschönste, und wie der König dies sah, verliebte er sich in sie und beschloß, sie zu heiraten. Die junge Prinzessin aber, die ein frommes Gemüht hatte und viel Tugenden besaß, war über die Maßen erschrocken, als sie den Willen ihres königlichen Vaters vernahm. Tag und Nacht betete sie zu den Göttern, daß sie ihr Hülfe senden und sie aus dieser Noth erretten möchten. Die Götter erhörten auch ihr frommes Flehen und machten sie häßlich; ihr Körper ward über und über mit Haaren bedeckt,[167] und sie ward dadurch sehr entstellt. Der König, als er nun seine Tochter erblickte und gewahrte, wie sie verunstaltet war, gerieth in großen Zorn; er sagte, sie sei eine Zauberin und befahl, man solle sie umbringen.

Die junge Königstochter aber, als sie hörte, wie hart ihr Schicksal sein sollte, und wie ihr eigener Vater Schmach und Tod über sie verhängte, floh in der Nacht, nur mit wenigen Kleidern und Lebensmitteln versehen, an die Küste. Dort hoffte sie mitleidige Schiffer zu finden, welche sie mit auf die See nehmen würden. Doch als sie an den Strand kam, da sah sie weit und breit keinen Fischer oder Seefahrer; alles war still umher, und die Kähne, welche sie erblickte, waren alle am Ufer festgekettet. Traurig ging sie weiter; als sie aber zagend über die Wasserfläche hinblickte, sah sie plötzlich dicht vor sich, nahe am Lande, einen einzigen Kahn, der nicht festgebunden war; rasch stieg sie in denselben hinein, denn am Ufer ward es ihr immer unheimlicher; und als sie ihre wenigen Habseligkeiten in Sicherheit gebracht hatte und schon im Begriffe war, vom Lande abzustoßen, war sie sehr verwundert über einen weißen Hund, den sie allerdings wohl im Kahne bemerkt aber nicht weiter beachtet hatte, da die Angst um ihr Leben sie zur Eile trieb. Jetzt glaubte sie, der Hund werde ans Ufer zurückspringen, allein sie irrte sich – er blieb ruhig neben ihr sitzen, blinzelte zutraulich mit den Augen und zeigte ihr ein schönes, breites Segel, das im Kahne verborgen lag. Als sie das Segel hervorgelangt, war der Hund ihr behülflich, es aufzuziehen, und da ein günstiger Wind dasselbe blähete, so kamen sie bald weit aufs offene Meer, und als der Morgen grauete, konnte man sie vom Lande aus nicht mehr bemerken. Es dauerte jedoch einige Tage, bevor sie wieder Land erblickten. Sie gelangten an eine felsige Küste; aber dahinter winkte eine sehr schöne, grüne Insel, und die Prinzessin beschloß sofort, hier zu landen. Es war die nachmalige Insel Yesso, welche sie mit dem treuen Hunde betrat. Sie nahm ihre Vorräthe zu sich und zog damit in eine Höhle, welche vor Regen[168] und Wind wohl geschützt war. Hier, in der kleinen, dunklen unterirdischen Wohnung lebte sie nun gar kümmerlich und beklagte ihr trauriges Geschick. Die Götter, welche der armen Königstochter wohlgesinnt waren, hatten ihr freilich während der Seefahrt ihre frühere Schönheit wieder gegeben; aber was nützte ihr hier die Wohlgestalt in der Einsamkeit, in der sie nicht einmal so viel hatte, um vollständig ihren Hunger zu stillen? Ach, die Einöde war gar zu schauerlich, die Insel gänzlich unbewohnt! Der Hund aber, der den Kummer der Prinzessin gewahrte, suchte sie schmeichelnd zu trösten, und eines Tages brachte er ihr, als sie schon verzweifeln wollte und vermeinte, Hungers sterben zu müssen – denn ihre Vorräthe gingen zu Neige –, einen schönen, großen Fisch. Die Prinzessin freute sich herzlich dieser Ueberraschung, und nun brachte der Hund ihr allerlei Lebensmittel, wie man sie zur täglichen Nahrung gebraucht. Bald war es abermals ein Fisch, bald waren es wohlschmeckende Muscheln und Krebse, bald Früchte und Kräuter aller Art, bald gar ein Hirschkalb oder anderes mehr. Mit Hülfe des dürren Holzes, das man durch Reibung in Brand setzen konnte, vermochte sie alle Mahlzeiten gut zuzubereiten, und friedlich neben einander sitzend verzehrten beide, der Hund und die Prinzessin, die wohlschmeckenden Speisen.

Dennoch kehrte die Betrübniß der Prinzessin immer wieder zurück; sie ward schwermüthig und klagte mit bitteren Thränen die Menschen der Härte und Ungerechtigkeit an, die selbst das Thier fühle und wieder gut zu machen strebe. Der Hund, ihr treuer Gefährte, saß still neben ihr und schien mit ihr zu klagen. Doch eines Tages, da sie abermals jammerte und klagte, da sollte wiederum der Hund ihr Tröster werden; er schien ihr Leid nicht mehr ansehen zu können und gab sich endlich der Prinzessin zu erkennen. Denn er war kein Hund, sondern ein herrlicher, junger Gott, der die Tugend und Standhaftigkeit der Prinzessin bewundert hatte und ihr zum Beistand und zur Rettung herbeigeeilt war. Die Prinzessin war nun ganz getröstet[169] und dankte den Göttern in frommen Gebeten für das unverhoffte Glück und die wunderbare Lösung ihres Geschickes. Beide, der Gott und die Prinzessin, heirateten sich nun und lebten auf der gastlichen, schönen Insel, die mit Lebensmitteln überreich versehen war, immer glücklicher und führten ein frohes, ungetrübtes Leben. Sie bekamen auch viele kräftige und schöne Kinder, die wohlerzogen und fromm ihr Glück erhöheten. Diese Kinder waren auch so geschickt wie ihre Eltern und halfen den Wohlstand mehren, denn sie gingen nicht allein mit ihrem Vater auf die Jagd und brachten reiche Beute heim, sondern sie bauten auch feste Kähne und richteten Bogen und Pfeile her, die sie gar zierlich mit Schnitzwerk versahen. Sie waren stark von Gliederbau, kühn auf der Jagd, muthig in allen Gefahren, und zum Andenken an das Haarkleid, das ihre Eltern beide vordem getragen, hatten die Männer herrliche, lange Bärte und alle Männer und Frauen schönes und dichtes, lockiges, schwarzes Haupthaar. Und wie sie geschickt und anstellig bei jeder Sache waren, so verfertigten sie auch bald schöne Gewänder aus Fellen und Leder oder auch aus der festen Borke eines Waldbaumes, die sie zu Fäden verarbeiteten, und aus verschiedenen anderen Pflanzenfasern, die sie suchten und überall im Walde zu finden wußten. So entstanden die Ainos, ein tapferes, arbeitsames und tugendhaftes Volk, das sich bald über die ganze Insel verbreitete. Manche zogen auch nach den zunächst liegenden Inseln hinüber und Andere erklommen steile Berge und kämpften dort mit den Bären. Die Bärengötter aber liebten dies Volk und gingen oft eheliche Verbindungen mit ihm ein, und die Söhne, welche aus diesen Verbindungen hervorgingen, wohnen als Gottheiten in den Urwäldern und zwischen den Klippen der Gebirge. Sie lenken die Geschicke ihrer Brüder, welche noch jetzt die Insel Yesso und die Felsenriffe im Nordosten, sowie den zunächst liegenden Theil der Insel Sachalien bewohnen. Alle aber sind Fischer und Jäger, wie es sonst keine giebt, und bis zum heutigen Tage sind sie fromme, tugendhafte Verehrer der Götter.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 167-170.
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