Raiko und Watanabe.

[217] Der tapfere Krieger Raiko stammte aus dem edlen Geschlechte der Minamoto und gehörte zu der Leibwache des Kaisers. Um jene Zeit war das Leben der Soldaten, denen die Obhut über das Leben des geheiligten Herrschers anvertraut war, weit mehr von Gefahren bedroht, als in späteren Tagen. Böse Geister oder Oni, die in den Dickichten und Sümpfen in den Umgebungen der Residenz Kioto hausten, kamen oft bis unter[217] die Thore, ja bis in die Vorhallen des kaiserlichen Palastes und erwürgten jeden, der sich nicht durch eilige Flucht rettete. Das wurmte den heldenmüthigen Raiko gar sehr, und sein Zorn gegen die höllischen Gespenster kannte vollends keine Grenzen, als eines derselben, ein Oni von gewaltiger Kraft und Stärke, sich Nacht für Nacht bis unter eine der Pforten wagte und den Kriegern, die dort standen, nach dem Leben trachtete, auch manche derselben bereits getödtet und in sein Versteck mitgeschleppt hatte. Leider aber war Raiko damals erkrankt und außer Stande, sein Lager zu verlassen. Er redete daher mit einem seiner Untergebenen, Namens Watanabe, dem stärksten und unerschrockensten aller Krieger der Leibwache nächst Raiko selber. Diesen fragte er, ob er sich wohl getraue, an seiner Statt das Abenteuer zu bestehen und mit dem Gespenste zu kämpfen. Der tapfere Watanabe willigte ohne Zögern ein und bezog, als es dunkelte, den gefährlichen Wachtposten. Sofort stürzte auch der Oni über ihn her und packte ihn am Helme, um ihn niederzureißen und mit sich fortzuschleppen. Der wackere Krieger jedoch hatte im Nu sein gutes Schwert gezogen und hieb mit einem Streiche des bösen Geistes Arm ab. Mit gräßlichem Geschrei suchte dieser das Weite, Watanabe aber nahm den gewaltigen Arm des Ungethüms als Trophäe mit und bewahrte ihn sorgfältig.

Eines Tages kam eine alte Verwandte zu ihm, beglückwünschte ihn zu der Heldenthat, deren Ruhm in Jedermanns Munde sei, und bat ihn, ihr doch den Arm des Oni zu zeigen. Dies that denn auch der Krieger gern und willig; kaum aber gewahrte die alte Frau das abgehauene Glied, so zeigte sie sich in ihrer wahren Gestalt; denn sie war nichts anderes als der Oni selber, der nur durch Zauberspuk das Aussehen der Tante Watanabe's angenommen. Rasch packte der böse Geist den Arm, und mit den Worten: »das ist mein Arm!« flog er durch das Dach von dannen. Vergebens lief Watanabe so rasch er konnte vor die Thür; er sah nur noch das Gespenst wegfliegen, und die Pfeile, die er eilends ihm nachschoß, konnten es nicht mehr erreichen.[218]

Nun hatte aller Heldenmuth Watanabe nichts genützt, und Raiko wäre seinem Gefährten gar sehr vonnöthen gewesen; allein er lag immer noch schwer krank. Die Oni aber wollten sich dies zu Nutze machen, und einer derselben kam, um den erkrankten Krieger zu Tode zu quälen. Allein er hatte sich arg verrechnet; Raiko ergriff trotz der Schwäche, in welche ihn die Krankheit versetzt, ohne Zögern sein mächtiges Schwert und hieb dem Oni eine tiefe Wunde, aus welcher das Blut stromweise schoß. Die Blutspur wurde nun von Watanabe und seinen Genossen verfolgt und führte an eine Höhle, in welcher einer der Dämonen hauste, welche den Namen Erdspinnen führen; hier gelang es den Tapferen, dem schwer verwundeten bösen Geiste vollends den Garaus zu machen.

Indessen schien es nunmehr allen dringend geboten, das Oberhaupt der Dämonen selbst anzugreifen und womöglich zu vernichten; denn sonst, das sah man wohl, würde der Uebermuth der bösen Geister nie ein Ende nehmen. Man wartete nur auf Raiko's vollständige Genesung, und als diese bald nach seinem letzten Abenteuer erfolgt war, machte sich eine auserlesene Schaar, zu der auch Watanabe gehörte, unter Raiko's Führung auf den Weg zu der Höhle, in welcher der Oberste der Oni, Schitendoji, seinen Wohnsitz hatte. Raiko ließ es sich nicht nehmen, allein voranzugehen, und da sah er einen scheußlichen Riesen, der aus einem großen Fasse unglaubliche Mengen Reiswein trank und sich so berauschte, daß er umsank und in Schlaf fiel. Nun sprang Raiko rasch herzu und schnitt dem Dämon den Kopf ab; als dies geschehen, mußte er aber Watanabe zu Hülfe rufen, um das Riesenhaupt, das die Größe eines mächtigen Felsblockes hatte, als Siegespreis mit sich fortschleppen zu können.

Von dieser Zeit an waren die Oni entmuthigt; sie wagten sich nicht mehr in die Nähe des Palastes und ließen die wachthabenden Krieger unbehelligt.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 217-219.
Lizenz:
Kategorien: