Brüderchen und Schwesterchen.

[2] Einmal war's und einmal war's nicht, Allah hatte viele Diener; da war einmal ein Padischah, der einen Sohn und eine Tochter hatte. Der Padischah ward alt, es kam seine Zeit und er starb; der Sohn nimmt seine Stelle ein und eine Zeitlang regierend, verzehrte er sein ganzes Vermögen.

Eines Tages sprach er zu seiner Schwester: »Liebste, wir haben all unser Vermögen verzehrt; wenn man erfährt, dass wir ohne Geld dastehen, so jagt man uns von dannen und obendrein werden wir aus Schande niemandem in die Augen sehen können. Das Beste ist, wenn wir all diesem ausweichen und bei Zeiten weggehen.« Die beiden Geschwister packten ihre Siebensachen zusammen und entfernten sich in der Nacht aus dem Palaste; sie zogen in die Welt.

Sie gingen denn vorwärts und gelangten auf eine endlos grosse Ebene. Sie litten gar sehr durch die Hitze, so dass sie beinahe zusammenbrachen. Der Bruder konnte es schon nicht länger ertragen und als er auf der Erde eine Pfütze erblickte, sprach er zur Maid: »Schwester, von hier mache ich keinen Schritt vorwärts, bevor ich dies Wasser nicht getrunken habe.« – »Aber Bruder« versetzte die Maid, »wer weiss, ob es Wasser oder Kot ist? Haben wir es bis lang ausgehalten, so wollen wir noch weitergehn, vielleicht finden wir gar bald Wasser!«[3]

Aber der Bruder erwiderte: »Nein, ich gehe keinen Schritt vorwärts; ich trinke es, wenn ich auch nur so lange leben sollte.« Hiemit machte er sich über das Wasser, schlürfte und schlürfte es; und siehe da! kaum hatte er es getrunken, so ward aus ihm ein Hirsch.

Die Maid klagte und jammerte gar bitterlich: was nun aus ihr werden solle; aber es war geschehen und sie machten sich denn wieder auf den Weg. Sie gingen hin und her auf der grossen Ebene; bei einer grossen Quelle stand ein grosser Baum; dort hielten sie Rast. Da sprach der Hirsch: »Schwester, kriech' auf diesen Baum hinauf; ich gehe weg, vielleicht finde ich einen Imbiss.« Die Maid kroch auf den Baum, der Hirsch ging weg, durchstreifte die Gegend; die Hasen, die er abfing, brachte er seiner Schwester und sie verzehrten dieselben und lebten also von einem Tage auf den anderen, von einer Woche zur anderen.

Aus der Quelle neben dem Baume pflegte man die Rosse des Padischah zu tränken. Abends brachten die Knechte die Rosse hin und als dieselben trinken wollten, erblickten sie im Wasserspiegel den Schatten der Maid. Sie schreckten zurück. Die Knechte aber glaubten, dass vielleicht das Wasser nicht rein sei und leerten den Trog, den sie frisch anfüllten; aber die Rosse schreckten wieder zurück und tranken nicht vom Wasser. Die Knechte konnten sich die Sache nicht erklären, gingen heim und erzählten den Fall dem Padischah.

»Vielleicht ist das Wasser trüb,« sprach der Padischah. »O nein,« versetzten die Knechte, »wir haben den Trog ausgeleert und mit frischem Wasser angefüllt; und sie tranken doch nicht!« – »Geht nur zurück,« sprach ihr Herr, »und blickt umher; vielleicht ist dort in der Nähe etwas, vor dem sie erschrecken.« Die Knechte gingen also zurück und wie sie bei der Quelle herumspähen, erblicken sie im Wipfel des grossen Baumes die Maid. Sogleich kehrten sie zurück[4] und benachrichtigen davon den Padischah. Der Padischah scheute die Mühe nicht, ging hin, blickte hinauf und sah nun eine Maid, eine solche, die dem Mond am Vierzehnten gleicht; eine so schöne, dass wer sie einmal gesehen hat, sagt: »Lass mich sie nochmals ansehen!« »Bist du ein Geist, oder bist du eine Fee?« rief ihr der Padischah zu. – »Ich bin weder ein Geist, noch eine Fee, sondern ein menschgeborenes Menschenkind,« erwiderte die Maid.

Vergeblich bittet der Padischah, sie möge zu ihm herabsteigen, vergeblich fleht er; sie hat nicht den Mut herabzusteigen. Der Padischah gibt nun erzürnt den Befehl, man solle den Baum fällen. Die Leute nahmen Beile hervor und machten sich ans Fällen des Baumes. Sie schneiden und spalten am Baum herum und beinahe hätten sie ihn gefällt, als es Nacht wurde und sie die Arbeit einstellten, um dieselbe am nächsten Tage fortzusetzen. Kaum hatten sie sich entfernt, als der Hirsch aus dem Walde herbeilief, den Baum besah und die Schwester über den Vorfall ausfragte. Die Maid erzählt das Geschehene und teilt ihm auch das mit, dass sie vom Baume nicht habe herabsteigen wollen. »Du hast gut getan,« sagte der Hirsch, »auch ein anderes Mal steige nicht herab, wie immer man dich ruft.« Dann ging er zum Baume und beleckte ihn; und siehe da! der Baum wurde noch dicker, als er vordem gewesen.

Am nächsten Tage ging der Hirsch wieder weg und als die Leute des Padischah kamen, sahen sie, dass der Baum nicht nur wieder ganz, sondern sogar noch dicker geworden sei. Sie begannen wieder den Baum zu schneiden und zu spalten und hatten die Hälfte der Arbeit fertig gebracht, als die Nacht heranbrach und sie nach Hause gingen. Wir wollen die Sache nicht in die Länge ziehen; kurz, der Hirsch kam wieder heran und beleckte wieder den Baum, worauf er noch dicker ward. Kaum dass in der Früh der Hirsch sich entfernt hatte,[5] kam der Padischah mit seinen Holzfällern und als er sah, dass der Baum noch dicker geworden, suchte er auf eine andere Weise zum Ziele zu gelangen. Er kehrte um und ging zu einer alten Frau, die im Rufe einer Hexe stand und erzählte ihr die Geschichte von Baume und der Maid; er versprach ihr viele Schätze, wenn sie ihm die Maid herablocke. Die Hexe macht sich dazu anheischig, nimmt einen eisernen Dreifuss, einen Kessel und noch andere Sachen zu sich und trägt sie zur Quelle. Den Dreifuss stellte sie auf die Erde, den Kessel darauf, doch mit dem Boden nach oben gekehrt; dann schöpfte sie Wasser aus der Quelle, doch goss sie es nicht in das Gefäss, sondern daneben; auch schloss sie die Augen, als ob sie blind wäre. Die Maid glaubte, dass sie in der Tat blind sei und rief ihr vom Baume zu: »Mutterchen, du hast den Kessel verkehrt auf den Dreifuss gesetzt; das Wasser fliesst auf die Erde.« – »O mein liebes Mägdlein,« begann die Alte, »wo bist du; meine Augen sehen dich nicht; ich habe schmutzige Sachen hergebracht; wenn du Allah liebst, komm und richte mir den Kessel, damit ich die Sachen wasche.« Die Warnung des Hirsches fiel der Maid ein und sie stieg nicht herab.

Am anderen Tage kam die Hexe wieder hin, strauchelte unter dem Baum, zündete ein Feuer an, nahm Mehl hervor damit sie es siebe; aber statt Mehl legte sie Asche in das Sieb. »Die arme blinde Frau,« sagte die Maid oben auf dem Baume und rief ihr zu, dass sie ja Asche statt Mehl in das Sieb lege. »O mein Mägdlein,« klagte die Alte, »ich bin blind; ich sehe nicht; steig' herab und hilf mir!« Der Hirsch hatte ihr strenge aufgetragen, dass sie vom Baume auf keinen Fall herabsteigen solle und sie folgte auch ihrem Bruder.

Am dritten Tage kam die Hexe wieder unter den Baum, diesmal brachte sie ein Schäfchen mit sich und als sie das[6] Messer hervornahm, um es abzustechen, so tat sie dies mit dem Messergriff. Die Maid konnte die Qualen des Schäfleins nicht mitansehen und stieg herab, damit sie es absteche; aber dort in der Nähe des Baumes lag der Padischah verborgen; er fing die Maid und führte sie schnurstraks in seinen Palast. Dem Padischah gefiel die Maid so sehr, dass er sie zu heiraten gedachte, aber die Maid wollte nicht einwilligen, bis man ihr nicht ihren Bruder, den Hirsch zuführe. Leute wurden in den Wald geschickt, die den Hirsch abfingen und zu seiner Schwester in den Palast führten. Die Maid lässt ihn von ihrer Seite nicht weg, sie schlafen bei einander und stehen zusammen auf. Der Padischah gab ein grosses Festmahl; die Hochzeit wurde abgehalten; der Hirsch wich nicht von ihrer Seite und wenn sie sich abends niederlegen, tappt es jedesmal mit seinen Vorderfüssen an ihnen herum und gibt sich mit seinem Loose zufrieden, denn:

»Dies ist des Schwagers Bein, dies ist der Schwester Bein!«

Die Zeit kommt, die Zeit vergeht, die Märchenzeit noch schneller, die der Verliebten am schnellsten; auch die unsrigen hätten ganz glücklich gelebt, wenn im Palaste nicht eine schwarze Sklavin gewesen wäre. Diese verzehrte der Neid, dass der Padischah diese vom Baum Gefallene und nicht sie geheiratet hatte. Sie lauerte auf die Gelegenheit, um sich zu rächen. Ein schöner Garten lag neben dem Palast; in dessen Mitte befand sich ein grosser Wasserbehälter; dort pflegte die Sultansfrau zu weilen. In der Hand eine goldene Trinkschale, an den Füssen silberne Schuhe, so ging sie zum grossen Wasserbecken; und als sie hingelangte, schlich ihr die Sklavin nach und warf sie ins Wasser. Im Wasserbecken befand sich ein grosser Fisch, der die Sultansfrau sogleich verschlang. Die Schwarze ging, als ob gar nichts geschehen wäre, in den Palast zurück, zog die Kleider[7] der Sultansfrau an und setzte sich an ihre Stelle. Abends kam der Padischah und fragte die Frau, was mit ihr geschehen sei, weil sich ihr Gesicht so verändert habe? »Ich spazierte lange im Garten herum und die Sonne hat mein Antlitz verbrannt« versetzte die Maid. Der Padischah glaubte es ihr, setzte sich neben sie und tröstete sie, aber der Hirsch kam auch heran und als er an ihnen herum tappte, erkennt es die Sklavin, denn:

»Dies ist des Schwagers Bein, wo ist der Schwester Bein?«

Die Sklavin hatte nun keine Lust, vom Hirsch verraten zu werden und dachte nach, wie sie dem Tiere den Garaus machen solle.

Sie dachte eins und heuchelte am nächsten Tage Krankheit; liess Ärzte zu sich rufen und durch Geld und schöne Worte überredete sie dieselben, dass sie dem Padischah sagen sollten: seine Gattin sei schwer erkrankt und nur wenn sie das Herz des Hirsches verzehre, könne sie gesunden. Sie sagten also dem Padischah, dass man das Herz des Hirsches der Kranken zu essen geben müsse. Er ging zu der Sklavin, die er eben für seine Gattin hielt und fragte sie, ob es ihr nicht leid wäre, wenn man ihren Bruder, den Hirsch abschlachte. »Was soll ich tun!« seufzte die Falsche; »wenn ich sterbe, was soll dann mit ihm geschehen; besser ist es, wenn wir ihn abschlachten lassen; so sterbe ich dann nicht und auch er ist von seiner Tiergestalt befreit.« Der Padischah gab nun den Befehl, dass man das Messer wetze und Wasser im Kessel aufs Feuer stelle.

Der arme Hirsch nimmt das geschäftige Hin- und Herlaufen wahr, er geht hinab in den Garten zum Wasserbecken und ruft dreimal seiner Schwester hinab:


»Man wetzt die Messer,

Im Kessel siedet das Wasser,

Mein Schwesterchen eile, eil'!«
[8]

Dreimal antwortet man ihm aus dem Magen des Fisches:


»Hier bin ich in des Fisches Magen,

In meiner Hand die gold'ne Trinkschale,

An meinen Füssen silberne Schuhe,

In meinem Schosse ein kleiner Padischah!«


Denn schwanger war die Sultansfrau, als sie der Fisch verschlang; dort im Magen des Fisches gebar sie ein Söhnlein.

Der Padischah wollte eben den Hirsch abfangen lassen, als er in den Garten zum Wasserbecken eilte. Er schlich ihm sachte nach und hörte alles, was die beiden Geschwister mit einander sprachen. Schnell liess er das Wasser aus dem Becken leeren, den grossen Fisch herausziehen und ihm den Bauch aufschlitzen und was erblickt er da? Seine Gattin im Fischmagen, eine goldene Trinkschale in der Hand, silberne Schuhe an beiden Füssen, in den Armen einen kleinen Sohn haltend. Bald die Gattin, bald das Söhnlein umarmend und küssend, führt er sie hinauf in den Palast und lässt sich das Geschehene erzählen. Inzwischen leckte der Hirsch zufällig etwas vom Blute des Fisches auf und ward dadurch auf einmal wieder ein Mensch. Er lief hinauf zu seiner Schwester, die Geschwister umarmen sich und weinen vor Glück und Freude.

Der Padischah liess die arabische Sklavin herbeiführen und fragte sie: was möchte sie lieber haben, vierzig Säbel, oder vierzig Rosse? Die Sklavin antwortete: »Säbel mögen in die Kehlen meiner Feinde dringen; mir gib vierzig Rosse, damit ich spazieren fahre.« Er liess nun die Maid an die Schweife von vierzig Rossen binden und schickte sie auf die Spazierfahrt; in kleine Stückchen wurde die Schwarze zerrissen; jedes ihrer Gliedteilchen blieb auf einem anderen Berge hängen.[9]

Der Padischah und seine Gattin feierten nochmals die Hochzeit, auch der Hirsch-Prinz fand im Palaste bald sein Pärchen und vierzig Tage und vierzig Nächte lang feierten sie die Hochzeit. Sie assen, tranken und erreichten ihr Ziel; auch ihr esset, trinket und erreicht euer Ziel.

Quelle:
Kúnos, Ignaz: Türkische Volksmärchen aus Stambul. Leiden: E.J.Brill, (1905), S. 2-10.
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