XXII
56. Das Vermächtnis des Verabschiedeten.

[169] Es waren einmal zwei Brüder. Ihr Vater starb, und sie teilten alles unter einander. Sie hatten aber auch ein goldenes Götzenbild, und ein jeder von ihnen wollte es für sich nehmen. Da gingen sie, ein jeder ohne Mitwissen seines Bruders, zum Kadi und bestachen ihn; ihr Prozess nahm aber kein Ende. Da wurde der Kadi abgesetzt. Als er schied, sagte der ältere Bruder, der ihm besonders viel gegeben hatte, zu ihm: »Kadi! Du hast so viel von mir genommen und hast dennoch meine Sache nicht erledigt!« »Das thut nichts«, erwiderte der Kadi, »ich werde einen Brief an den Kadi schreiben, der an meine Stelle tritt, dass er deine Sache schnell zu Ende führe.« Darauf schrieb er einen Brief, händigte ihn dem Manne ein und reiste ab.

Als der neue Kadi kam, wollte der Mann zu ihm hingehen und ihm seinen Brief zeigen; da sagte aber einer seiner Freunde: »Ich will doch nachsehen, was der verabschiedete Kadi hineingeschrieben hat.« Als er ihn nun öffnete und las, fand er darin folgendes geschrieben: »Teurer Kadi! die Sache dieser beiden Brüder zog ich in die Länge und führte sie nicht zu Ende, um sie dir zuweisen zu können; darum nimm auch du dem Kadi, der nach dir kommt, nicht das Brod weg; wie ich es gemacht habe, so mach' auch du es!« Da dachte der Mann nach und sprach: »Es dürfte besser sein, dass ich zu meinem Bruder gehe und mich mit ihm versöhne, als dass wir mit unserer Habe die Kadis füttern.« Darauf ging er zu seinem Bruder und erzählte ihm, wie sich die Sache verhielt. Da sagte auch sein Bruder: »Jawohl, Bruder, dass unsere Habe uns bleibt, ist besser, als dass wir damit die Kadis füttern.« Sie versöhnten sich nun und lebten in Liebe und Eintracht.


[170] 57. Eine zur Crescentiagruppe gehörige Erzählung, die der »Geschichte Repssima's« in 1001 T. IV p. 192 ff. und der »Geschichte von der Chôrschîd und dem cUṭârid« in ZDMG XXI p. 536 ff. nahesteht.

58 (f. 37 b). Der Bermekide Jaḥja bittet seinen Sekretär, ihn doch einmal zu sich einzuladen. Dieser wendet zwar ein, dass seine Wohnung sich nicht dazu eigne, aber jener beharrt darauf. Nach der Mahlzeit übergiebt er ihm das Grundstück des Nachbars, das er inzwischen gekauft und auf dem er ein neues Haus hat erbauen lassen. Auch weist er ihm ein Dorf zu lebenslänglicher Nutzniessung zu und giebt ihm noch 15000 Denare, die er verzehren soll, bis er die ersten Einkünfte vom Dorfe bezieht.

Quelle:
Lidzbarski, Mark (Hg.): Geschichten und Lieder aus den neuaramäischen Handschriften. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1896, S. 169-171.
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