[2] 1. Weiberworte trennen Fleisch und Bein

[2] Es waren einmal zwei Brüder, die wohnten in demselben Hause. Der Große hörte auf die Worte seines Weibes und kam darob mit seinem Bruder auseinander. Der Sommer hatte angefangen, und es war Zeit, die hohe Hirse zu säen. Der Kleine hatte kein Korn und bat den Großen, ihm zu leihen. Der Große befahl seinem Weib, es ihm zu geben. Die nahm das Korn, tat es in einen großen Topf und kochte es gar. Dann gab sie es dem Kleinen. Der Kleine wußte nichts davon, ging hin und säte es auf seinem Felde. Da aber das Korn gekocht war, kamen die Halme nicht hervor. Nur ein einziger Same war noch nicht gar gewesen; so wuchs ein einziger Halm in die Höhe. Der Kleine war arbeitsam und fleißig von Natur, darum begoß und behackte er ihn den ganzen Tag. Da wuchs der Halm mächtig wie ein Baum, und eine Ähre brach hervor wie ein Baldachin, so groß, daß sie einen halben Morgen Landes beschattete. Im Herbste ward sie reif. Da nahm der Kleine eine Axt und hieb damit die Ähre ab. Kaum war die Ähre auf den Boden gefallen, da kam plötzlich ein großer Vogel Rokh rauschend heran, nahm die Ähre in den Schnabel und flog davon. Der Kleine lief ihm nach bis an den Strand des Meeres.

Der Vogel wandte sich nach ihm und redete auf Menschenweise also: »Ihr müßt mir nichts zuleide tun. Was ist die eine Ähre Euch denn wert? Östlich vom Meer, da ist die Gold- und Silberinsel. Ich will Euch hinübertragen. Da könnt Ihr nehmen, soviel Ihr wollt, und sehr reich werden.«

Der Kleine wars zufrieden und stieg dem Vogel auf den Rücken. Der hieß ihn die Augen schließen. So hörte er nur die Luft an seinen Ohren sausen, als führe er durch einen starken Wind, und unter sich hörte er das Rauschen und[3] Toben von Flut und Wellen. Im Nu ließ sich der Vogel auf einer Insel nieder. »Nun sind wir da«, sagte er.

Da machte der Kleine die Augen auf und blickte um sich; da sah er allenthalben Glanz und Glimmer, lauter gelbe und weiße Sachen. Er nahm von den kleinen Stücken etwa ein Dutzend und barg sie in seinem Busen.

»Ist es genug?« fragte der Vogel Rokh.

»Ja, ich habe genug«, antwortete er.

»Gut so«, sagte der Vogel, »Genügsamkeit schützt vor Schaden.«

Dann nahm er ihn wieder auf den Rücken und trug ihn übers Meer zurück.

Als der Kleine nach Hause kam, da kaufte er sich mit der Zeit ein gut Stück Land und ward recht wohlhabend.

Sein Bruder aber ward neidisch auf ihn und fuhr ihn an: »Wo hast du denn das Geld gestohlen?«

Der Kleine sagte ihm alles der Wahrheit gemäß. Da ging der Große heim und hielt mit seinem Weibe Rat.

»Nichts leichter als das«, sagte das Weib. »Ich koche einfach wieder Getreide und behalte ein Korn zurück, daß es nicht gar wird. Das säst du aus, und wir wollen sehen, was geschieht.«

Gesagt, getan. Und richtig kam ein einzelner Halm hervor, und richtig trug der Halm eine einzelne Ähre, und als es Zeit zur Ernte war, kam wieder der Vogel Rokh und trug sie in seinem Schnabel davon. Der Große freute sich und lief ihm nach, und der Vogel Rokh sprach wieder dieselben Worte wie das vorige Mal und trug den Großen nach der Insel. Dort sah der Große Gold und Silber ringsum angehäuft. Die größten Stücke waren wie Berge, die kleinen waren wie Ziegelsteine und die ganz kleinen wie Sandkörner. Es blendete ihn ganz in den Augen. Er bedauerte nur, daß er kein Mittel wußte, Berge zu versetzen. So bückte er sich denn und hob an Stücken auf, was er konnte.

Der Vogel Rokh sprach: »Nun ists genug! Es geht dir über die Kraft.«[4]

»Gedulde dich noch eine kleine Weile«, sagte der Große. »Sei nicht so eilig! Ich muß noch ein paar Stücke haben.«

Darüber verging die Zeit.

Der Vogel Rokh trieb ihn abermals zur Eile an: »Die Sonne wird gleich kommen«, sagte er, »und die ist so heiß, daß sie die Menschen verbrennt.«

»Wart noch ein bißchen«, sagte der Große.

Im Augenblick aber kam ein rotes Rad mit Macht hervor. Der Vogel Rokh flog in das Meer, breitete seine beiden Flügel aus und schlug damit in das Wasser, um der Hitze zu entrinnen. Der Große aber ward von der Sonne aufgezehrt.

Quelle:
Wilhelm, Richard: Chinesische Volksmärchen.Jena: Eugen Diederich, 1914, S. 2-5.
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