16. Der Zwerghirsch und das Krokodil

[58] Der Zwerghirsch ging eines Tages am Flusse spazieren und erblickte auf der andern Seite einen Baum, an dem eine Frucht hing. Er wollte gerade über das Wasser setzen, als er eines Krokodils ansichtig wurde. »Wer ist da?« fragte der Zwerghirsch, doch das Krokodil antwortete nicht. D'rauf sagte der Zwerghirsch: »Oho, ich weiß wohl, wer du bist. Du bist das Krokodil. In sieben Tagen will ich meine ganze Sippe hierherbringen, dann wollen wir mit dir kämpfen; bring deine Leute nur auch mit.«

Als der siebente Tag da war, begab sich der Zwerghirsch frühmorgens an den Fluß, bevor das Krokodil noch erschienen war. Er lief im Ufersande hin und her, so daß derselbe über und über mit seinen Fußspuren bedeckt war.

Nach einer Weile kam das Krokodil mit seinen Gefährten. Der Zwerghirsch erwartete sie und sagte: »Ihr kommt ja sehr spät. Meine Genossen haben auf euch gewartet und gewartet, aber schließlich wurden sie müde, und nun sind sie nach Hause [58] gegangen. Wollt ihr mir nicht glauben, dann seht euch einmal die Spuren im Sande an. Nun möchte ich dich und deine Gefährten zählen, damit ich weiß, wieviel ihr seid; seid also so gut und stellt euch einmal von einem Ufer des Flusses zum andern in einer Reihe auf.« Das taten die Krokodile, und der Zwerghirsch schritt über die Rücken hinweg und zählte: »Eins, zwei, drei,« plötzlich tat er einen Satz und sprang auf das andere Ufer. Dann rief er: »Aha, euch habe ich angeführt! Wie könnte denn ein Zwerghirsch mit Krokodilen kämpfen! Ich sah auf dieser Seite eine Frucht, aber ich fürchtete mich, hinüberzuschwimmen, denn ich wußte ja, daß ihr auf mich wartetet.« – »Schön,« antwortete das Krokodil, »warte man, wenn du wieder zum Trinken an den Fluß kommst, dann werde ich dich fressen.«

Einige Tage später hatte der Zwerghirsch das Krokodil schon wieder vergessen. Er ging ans Wasser und wollte trinken. Da kriegte das Krokodil ihn beim Bein zu fassen. D'rauf griff der Zwerghirsch nach einem Stück Holz, schob es nach ihm hin und sagte dann: »Du hast ja gar nicht mein Bein zu fassen. Hier ist mein Bein,« und zeigte dabei auf das Stück Holz. Da ließ das Krokodil das Bein des Zwerghirschs los. Der Zwerghirsch sprang fort und rief: »So, jetzt habe ich dich wieder angeführt! Nein, Krokodil, du bist fürwahr auch gar zu dumm!« – »Na ja!« entgegnete das Krokodil, »das nächste Mal kommst du nicht so glimpflich davon.«

Quelle:
Hambruch, Paul: Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde. Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 58-59.
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