18. Der Zwerghirsch und der Einsiedlerkrebs

[60] Als der Zwerghirsch so die meisten Großtiere gefoppt und teilweise in den Tod gejagt hatte, da wollte er einmal sehen, ob er nicht mit einem Tiere eine Wette eingehen könnte, welches von ihnen beiden am schlauesten wäre. Er begab sich also auf die Suche und begegnete schließlich dem Einsiedlerkrebs. Der sagte zu ihm: »Zwerghirsch, mit deinen Listen hast du all den großen Tieren den Tod gebracht, wenn du aber einmal deinen Verstand mit meinem messen willst, ich bin bereit dazu.« – »Gut,« antwortete der Zwerghirsch, »danach sehne ich mich ja auch; aber wie willst du denn mit mir einen Wettstreit eingehen?« – »Ich möchte mit dir um die Wette laufen,« erwiderte der Einsiedlerkrebs, »und wenn du gewinnst, will ich dich als das klügste Tier anerkennen und ebenfalls deine Tüchtigkeit im Wettlauf.« – »Was? du willst mit mir um die Wette laufen?« sagte der Zwerghirsch, »du kannst doch nur seitwärts im Sande gehen, und dann läufst du sogar nicht allein mit deinem Körper, sondern mußt noch dein Muschelhaus tragen.« Der Zwerghirsch schämte sich, daß der Einsiedlerkrebs ihn so zum Wettlauf herausforderte, aber er sagte zu ihm: »Wann wollen wir laufen?« – »Morgen,« versetzte der Einsiedlerkrebs, »wir wollen uns in der Mitte des Strandes treffen und wettrennen. Lade alle deine Gefährten dazu ein, ich hole mir meine.« – »Gut,« sagte der Zwerghirsch, »ich werde morgen kommen.« – »Wir wollen ein Geviert im Sande abstecken,« sprach der Einsiedlerkrebs, »und dann an den Innenseiten des Gevierts von einer Ecke zur nächsten rennen.« Am andern Morgen kam der Zwerghirsch mit seinen Gefährten. Der Einsiedlerkrebs war ebenfalls mit seinen Freunden da. Es wurde entschieden, wer im Wettlauf Sieger bliebe, der sollte der Meister aller Tiere sein – denn der Zwerghirsch hätte ja schon die stärksten besiegt.

Als sie am Strande waren, machten sie ein Geviert und setzten an die Ecken Pfosten. Darauf versammelte der Zwerghirsch seine Gefährten an einem Platze, und der Einsiedlerkrebs [61] machte es ebenso. Der Einsiedlerkrebs gebrauchte aber eine List. Er suchte sich drei Freunde heraus, die ihm an Größe und Aussehen glichen, und bat sie, sich an drei Pfeilern, vor denen die Läufer vorübermußten, im Sande zu vergraben; der Pfosten, an dem der Wettlauf begann, sollte frei bleiben. D'rauf sagte der Einsiedlerkrebs zum Zwerghirsch: »Wenn du an den ersten Pfosten kommst, dann rufe Omong (Einsiedlerkrebs), und wenn ich dann nicht antworte, dann weißt du, daß ich noch hinter dir bin und du den Wettlauf gewonnen hast.«

Dann begaben sich die beiden nach der Ablaufstelle, und der Einsiedlerkrebs sagte: »Lauf!« Als der Zwerghirsch den Einsiedlerkrebs »Lauf!« rufen hörte, machte er einen großen Satz, und der Einsiedlerkrebs, der natürlich zurückblieb, grub sich schnell in den Sand ein; niemand hatte es gesehen, denn die Zuschauer standen weit entfernt, und der Einsiedlerkrebs war so klein.

Der Zwerghirsch rannte geradeaus, ohne sich umzusehen, und als er beim ersten Pfosten war, war der zweite Einsiedlerkrebs aus dem Sande herausgekommen und wartete auf ihn. Und als der Zwerghirsch rief: »Omong!«, da antwortete der Einsiedlerkrebs: »Ja, hier bin ich!« Als der Zwerghirsch sah, daß es der Krebs war, mit dem er um die Wette lief, machte er einen neuen Satz und lief nach dem zweiten Pfosten. Dort ereignete sich dasselbe, und der Zwerghirsch dachte bei sich: »Wie ist es nur möglich, daß der Einsiedlerkrebs, der doch sonst so langsam ist, es mit mir aufnimmt?«

Beim dritten Pfosten antwortete wieder ein Einsiedlerkrebs, und der Zwerghirsch, der schon schwer und schnell atmete, weil er mit höchster Geschwindigkeit lief, holte nun das letzte aus sich heraus, um das Ziel, den Ablauf, doch nun als erster zu erreichen. Als er dort eintraf, wartete der Einsiedlerkrebs auf ihn; wieder rief der Zwerghirsch: »Omong!«, und er erhielt seine Antwort.

Da schämte sich der Zwerghirsch und wollte sterben. Er lief von einem Mal zum andern, von einem Pfosten zum nächsten Pfosten, bis ihm schließlich der Atem ausging. Und als er das [62] Ziel erreichte, rief er wieder: »Omong«, und der Einsiedlerkrebs erwiderte: »Ja, hier bin ich!« Darauf fiel der Zwerghirsch, dem der Atem ausgegangen war, der Länge nach hin, streckte die Viere von sich und verschied. Die Einsiedlerkrebse riefen, ihr Mann wäre der Meister. Und die andern Zwerghirsche hüllten sich in Schweigen.

Quelle:
Hambruch, Paul: Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde. Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 60-63.
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