3. Wer mordete die Kinder der Fischotter?

[36] Die Otter sprach zum Zwerghirsch: »Freund Zwerghirsch, sei so lieb und paß auf meine Kinderchen, bis ich wieder heimkomme. Ich will am Flusse Fische fangen und nach meiner Rückkehr will ich den Fang mit dir teilen.« Der Zwerghirsch antwortete: »Gewiß, sehr gern! Geh nur los, ich werde inzwischen auf deine Brut passen.« Und die Otter ging an den Fluß, um Fische zu fangen.

Nun war der Zwerghirsch Vortänzer bei den Kriegsreigen; als die Gongs erdröhnten, tanzte er und trat dabei auf den kleinen Fischottern herum, daß sie ganz zu Brei wurden. Bald kam die Ottermutter heim; sie hatte eine Menge Fische bei sich; und als sie ihr Haus betrat, sah sie nun, daß alle ihre Kinder tot waren. Sie rief: »Freund Zwerghirsch, sage doch, wer hat denn meine Kinderchen getötet?« Der Zwerghirsch entgegnete: »Der Specht hat die Kriegsgongs erdröhnen lassen, da mußte ich als Vortänzer tanzen; ich dachte dabei gar nicht an deine Kinderchen, ich trat auf ihnen herum und habe sie totgetreten.«

Als die Otter dies vernommen hatte, begab sie sich zum König Salomo, warf sich vor ihm nieder und klagte: »Ew. Majestät [36] allerniedrigste Dienerin liegt hier im Staube vor Euch und bittet um Verzeihung, wenn sie es wagt, Ew. Majestät allergnädigstes Gehör zu erflehen, denn der Zwerghirsch mordete die Kinder Eurer Dienerin, und Eure Dienerin möchte nun wissen, ob er nach den Gesetzen des Landes schuldig zu sprechen ist oder nicht.« König Salomo erwiderte: »Hat der Zwerghirsch es mit Vorsatz und wissentlich getan, dann ist er des Todes schuldig.« Und er befahl den Zwerghirsch vor sich.

Der Zwerghirsch erschien vor'm Könige; der König fragte die Otter: »Wessen klagst du ihn an?« Die Otter sagte: »Eure Dienerin beschuldigt ihn des Mordes an den Kindern Eurer Dienerin; Eure Dienerin möchte dazu das Gesetz des Landes hören.« Nun fragte der König den Zwerghirsch: »Sag, weshalb hast du die Kinder der Otter getötet?« Der Zwerghirsch erwiderte: »Ja, ich tat es und bitte um Eure Verzeihung.« – »Weshalb hast du sie denn umgebracht?« – »Nun, Euer geringster Diener tötete sie, als der Specht die Kriegsgongs erdröhnen ließ. Ew. Majestät weiß ja, daß Euer geringster Diener Vortänzer im Kriegsreigen ist; er mußte daher tanzen, und weil er darüber die Kinderchen der Otter vergaß, trat er auf ihnen herum und trampelte sie zu Brei.« Jetzt ließ der König den Specht kommen. Der Specht erschien. »Specht,« fragte der König, »hast du die Kriegsgongs erschallen lassen?« – »Ja,« antwortete der Specht, »denn ich sah, wie die große Eidechse ihr Schwert umgürtete.« Der König äußerte: »Ist das der Fall, dann hat der Specht keine Schuld, denn er ist ja zum Schlagen der Gongs an erster Stelle verpflichtet.« Der König ließ nun die große Eidechse vor sich kommen und fragte sie: »Hast du das Schwert getragen?« – »Ja, Ew. Majestät, ich tat es.« – »Weshalb trugst du ein Schwert?« – Die große Eidechse erwiderte: »Euer Diener griff zum Schwerte, weil die Schildkröte ihren Panzer angelegt hatte.« Nun wurde die Schildkröte vorgeladen. »Weshalb hast du deinen Panzer angezogen?« Die Schildkröte sagte: »Euer Diener tat sich nach dem Panzer um, als er sah, wie der Molukkenkrebs mit seinem dreikantigen Speer herumzog.« Der Molukkenkrebs [37] mußte erscheinen. »Warum zogst du mit deinem Speer hemm?« – »Euer Diener sah, wie der Hummer seine Lanze auf die Schulter genommen hatte.« Der Hummer wurde vorgeladen. »Hummer, hast du eine Lanze auf die Schulter genommen?« Der Hummer antwortete: »Jawohl, Ew. Majestät!« – »Und weshalb tatst du dies?« – »Euer ärmster Diener sah, wie die Otter herbeikam, um die Kinderchen Eures ärmsten Dieners zu verschlingen.« – »Oho,« sagte König Salomo, »liegt der Fall so, dann hast du, Otter, allein Schuld. Deine Klage gegen den Zwerghirsch kann nicht aufrecht erhalten bleiben, sie unterliegt nicht den Gesetzen des Landes.«

Quelle:
Hambruch, Paul: Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde. Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 36-38.
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