27. Der Vogel Garuda

[98] Es waren einmal einige Männer, die gingen gemeinsam auf die Treibjagd und begegneten einem Hirsche. Sie verfolgten das Tier und setzten ihm unaufhörlich nach, bis sie an einen See kamen. Der Hirsch stürzte sich ins Wasser und schwamm weiter; sie wären ihm gern gefolgt, wenn sie nur ein Boot gehabt hätten. Da erblickten sie einen umgefallenen Baum, und einer sagte: »Bringt den Baum hierher, wir wollen Flügel daran binden und damit losfahren, um den Hirsch zu verfolgen; dann können wir ihn töten.«

Gut! Sie schleppten den Baum herbei, banden daran Flügel, setzten sich oben auf den Stamm und fuhren los. Sie folgten dem Hirsch und ließen auch nicht davon ab; doch kriegten sie ihn nicht, denn der Strom war mit dem Hirsch und nahm ihn mit, und schließlich gerieten sie in einen Wirbel und wurden dort hineingezogen.

Der Wirbel verschlang den ganzen Baum mit den Menschen; nur einer kam heil wieder heraus. Alle anderen – der eine ausgenommen – wurden mit Haut und Haar verschlungen. Dieser eine hatte noch auf dem Lande, als sie den Hirsch verfolgen wollten, einen Wurfspieß mit Widerhaken mitgenommen; [98] als der Wirbel sie verschlingen wollte, erblickte er eine Baumwurzel, die von oben herabhing; in die schlug er den Speer mit den Widerhaken ein, zog sich daran empor und klomm auf den Baum hinauf.

Aber wie erschrak er da! Er sah einen großen Vogel, der brütete gerade. Und der Vogel fragte ihn: »Woher kommst du denn?« Der Mann antwortete: »Ach, uns hat ein Unglück betroffen, und so bin ich hierher gekommen.« Doch der Vogel sagte: »Oh! Flieh' schnell von hier fort, denn sonst kommt mein Mann mit den Jungen, und die beißen dich tot.« – Der Mann entgegnete: »Das ist unmöglich! Wohin soll ich mich im Wipfel des Baumes wenden, um flüchten zu können?« Da meinte der Vogel: »Nun, wenn dem so ist, dann komm man zu mir und verstecke dich unter meinen Flügeln.« Der Vogel war unsagbar groß; und als der Mann sich unter ihm verborgen hatte, war nichts von ihm zu sehen.

Es dauerte nicht lange, da kam denn auch der Mann mit den Jungen heim. Sie brachten unendlich viel Fleisch mit. Sie griffen sich Menschen und hu! oben im Baum lagen lauter Menschengebeine.

Nun spürte der Mann den Geruch des Menschen, der in seinem Versteck saß, und sagte: »He! Mir ist, als ob ich Menschenfleisch rieche!« Doch die Frau, die den Mann verborgen hatte, verriet nichts und antwortete: »Aber Mann, bedenke doch! Wie sollte ein Mensch wohl hierher kommen?« – Der Mann blieb jedoch dabei und sprach: »Hoho! Ja! Gewiß! Es riecht hier nach Menschenfleisch.« Wiederum entgegnete die Frau: »Aber Mann, bedenke doch! Wie sollte ein Mensch hierher kommen?« Der Mann blieb dabei; und als die Frau schließlich einsah, daß sie den Menschen nicht länger verbergen konnte, meinte sie, es wäre wohl besser, die Wahrheit zu sagen: »Ja, hier ist ein Mensch, der wurde vom Unglück befallen; da kam er, um hier eine Schlupfstätte zu finden.« Schön! Da hatte der Mann Mitleid mit ihm und tat ihm nichts zu Leide.

Nun waren dem Vogel, der brüten mußte, die Federn ausgefallen; [99] und es sprach der Mannvogel: »Schön! wenn meiner Frau in sieben Tagen die Federn wieder gewachsen sind, dann soll sie dich nach Hause bringen.« Und als die sieben Tage um waren, trug sie ihn fort; sie flog und flog, und als sie sein Haus erreicht hatte, setzte sie ihn ab und flog wieder nach dem Baume heim.

Aber nun! Als er ins Land ging und sich umschaute, furchtbar! Häuser gab es wohl, doch nicht einen Menschen. Nicht ein Bein war zu sehen. Der Vogel hatte sie bis auf den letzten weggeholt. So gab es dort keine Menschen mehr!

Er ging in ein Haus hinein. Sieh da! Als er eintrat und sich umsah, furchtbar! Nein! Schätze waren da aufgehäuft! In hohen Haufen lagen sie da; aber Menschen waren nicht zu sehen.

Nun befand sich dort auch eine Trommel; die nahm er in die Hand und spielte darauf. – Ein junges Mädchen hatte sich aber in den Bambusdachsparren verborgen, niemand konnte es sehen. Das rief: »Spiel' nicht! Sonst hört es der Vogel und kommt herbei und tötet uns!«

Er sah nach oben, doch erblickte er das Mädchen nicht. So schlug er die Trommel denn tüchtig weiter, bis es ihm wieder zurief: »Trommele doch nicht! Sonst hört es der Vogel und tötet uns.«

Wieder blickte er nach oben. Und nun sah er das Mädchen, da es sich im Bambus versteckt hatte. Und er sprach zu ihm: »Schön! Sei still! Ich habe mit dem Vogel Freundschaft geschlossen, der tut uns nichts!« Als es das hörte, stieg es sofort herab, und beide schlossen den Bund fürs Leben.

Nun hatte er ein Hühnerei mitgebracht, und seine Frau hatte auch eins; und es dauerte nicht lange, da kamen die beiden Eier aus; aus dem Ei des Mannes schlüpfte ein Hühnchen, aus dem Ei der Frau ein Hähnchen.

Die Küken liefen umher und suchten sich ihr Futter, doch blieben sie stets bei den beiden. Und wenn sie sich in die Federn pickten, dann fiel von Zeit zu Zeit eine Feder heraus. Die sammelte der Mann und bewahrte sie auf. Schau! Schließlich [100] waren es viele Federn, und er tat sie alle zusammen in eine Kiste. Als die Küken groß wurden, lernte das Hähnchen krähen; und als es zum ersten Male krähte, da sproßten alle Pflanzen aus der Erde heraus, und als er zum andern Male krähte, da wurden aus all den Kükenfedern, die er aufbewahrt hatte, Menschen. –

Es war ein sehr großes Volk; und die beiden wurden König und Königin und herrschten über sie.

Quelle:
Hambruch, Paul: Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde. Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 98-101.
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