28. Suri ikuen und die beiden Raubvögel

[101] Es war einmal ein Mann und eine alte Frau, die hatten sieben Söhne und sieben Töchter; sie hatten auch einen Acker, der hatte sieben Terrassen, auf denen sie ihre Yamsknollen zogen.

Eines Nachts kam ein Schwein und fraß von den Yams. Und die Nacht darauf mußte daher einer der großen Jungen aufpassen. So gegen Mitternacht kam das Schwein wieder an den Zaun und rief: »Yams, sage mal, ist dein Herr hier?« Die Yamsknolle antwortete: »Ja, mein Herr ist hier!« Darauf zerstörte das Schwein den Zaun und grunzte: »Quiek, quiek, quiek, ich fresse euch Knollen und auch euren Herrn.«

Der Junge machte, daß er wegkam, und das Schwein fraß mit eins die ganze eine Terrasse leer. Am andern Tag mußte ein anderer wachen. Und als es Mitternacht war, erschien das Schwein wieder. Als es am Zaun war, rief es: »Yams, sage mal, ist dein Herr hier?« Und die Yamsknolle antwortete: »Ja, mein Herr ist hier!« – So ging es der Reihe nach. Sechs hatten Wache gehalten. Da kam Suri ikuen an die Reihe. Er grub sich ein Loch und legte sich hinein; nur das Ende des Gewehrlaufs schaute heraus; wenn das Schwein kam, wollte er es schießen. Als um Mitternacht ihm die Augenlider zufallen wollten, nahm er Pfeffer, Salz und Limonen, mischte dies alles durcheinander, damit er, wenn er [101] schläfrig wurde, seine Finger, in die er sich geschnitten hatte, in dies Gemisch stecken konnte.

Gegen Mitternacht kam das Schwein an die Umzäunung und rief: »He, Yams, sage mal, ist dein Herr hier?« Die Yamsknolle antwortete: »Mein Herr ist hier.« Sogleich brach das Schwein in den Zaun ein und grunzte ununterbrochen: »Quiek, quiek, quiek, ich fresse euch Knollen und auch euren Herrn!« Es wollte gerade in einen Yams hineinbeißen, da schoß Suri ikuen. Und Suri ikuen ging dann erst einmal nach Hause, holte seine Brüder, und sie zerlegten das Schwein. Jeder nahm sich sein Teil. Suri ikuen bekam nur den Kopf und ein Stück vom Schwanze. Als sie mit dem Zerlegen fertig waren, begaben sie sich wieder nach Hause.

Unterwegs sagten die Sechse zu ihm: »Suri, hast du Vaters Wetzstein?« Suri ikuen antwortete: »Nein, habt ihr ihn nicht?« Sie sprachen: »Nein! Geh doch noch einmal nach dem Blätterhaufen zurück, auf dem wir das Schwein zerlegten; vielleicht haben wir ihn beim Weggehen vergessen, und er liegt unter den Blättern.« Suri ikuen erwiderte: »Ja, aber ihr müßt auf mich warten.« Sie sagten: »Ja, schön! Lauf' nur flugs hin, wir warten hier.«

Suri ikuen zog los; als er bei dem Blätterhaufen ankam, nahm er ihn hoch, doch fand er keine Spur von dem Wetzstein. So machte er wieder Kehrt und rief unterwegs in einem fort: »Liebe Brüder! Wartet ihr auch?« Da antworteten ihm die Spukgeister mit den großen Ohren: »Uui! Wir sind hier!« Suri ikuen sagte, »Steht auf, wir wollen weitergeh'n.« Die Spukgeister riefen wieder: »Hier sind wir!« Doch Suri ikuen sprach: »O nein! Ihr seid nicht meine Brüder, meine Brüder haben keine so großen, breiten Henkelohren, sie tragen keine weißen Gewänder und haben auch keine so weißen Zähne, o nein!« Sogleich schlugen die Spukgeister ihre Ohren auseinander, wickelten den Suri ikuen darin ein und brachten ihn in ein Verließ, das mit einem eisernen Gatter verschlossen werden konnte. In diesem Verließ stand ein großer Kapokbaum. Suri ikuen schaute nach oben. Da sah er zwei junge Raubvögel [102] im Wipfel des Baumes sitzen und bat die Großohren, doch hinaufzuklettern und ihm die beiden Vögel zu bringen. Die Großohren taten es, brachten ihm auch zu essen. Aber er genoß nur wenig davon, sondern gab es den jungen Raubvögeln. Dabei blieb er, bis die Raubvögel herangewachsen und groß geworden waren.

Eines Tages sagte einer von ihnen: »Steig doch mal in diesen Korb. Wir wollen dann versuchen, ob wir ihn heben können oder nicht.« Suri ikuen setzte sich in den Korb, und die beiden Raubvögel hoben ihn hoch. Sie konnten es ganz gut. Darnach setzten sie ihn wieder nieder.

Am andern Morgen wollten die Großohren den Suri ikuen schlachten. In aller Frühe erschienen sie, um ihn zu töten. Und als sie ihn mit dem Messer kitzelten, da lachte er aus vollem Halse. Sie sagten: »Aha! Sein Fleisch ist schon fett!« Suri ikuen sprach: »Da ihr mich nun schlachten wollt, bitte ich euch, wetzt eure Messer, doch kehrt mir dabei den Rücken zu. Ich will mich in den Korb setzen.« Das taten sie denn auch. Und als sie ihm den Rücken zuwendeten, flogen die beiden Raubvögel mit Suri ikuen in die Krone des Kapokbaums. Da bissen die Großohren in den Baum, andere hackten auf ihn ein oder kratzten an ihm herum. Als der Baum umfiel, trugen die Vögel Suri ikuen in einen anderen Baum. Nun folgten die Großohren ihm dahin. Die einen wollten ihn umschlagen, die anderen zwickten an ihm herum oder bissen in ihn hinein. Und als der Baum umfiel, da trugen die Vögel ihn auf die Spitze eines hohen Felsens. Die Großohren folgten. Welche bissen, andere zwickten oder hackten daran herum. Doch der Felsen fiel nicht um.

Nun flogen die beiden Vögel ins Tal und hackten den Großohren die Augen aus. Auch gelang es ihnen, eine junge Prinzessin zu befreien. Sie flogen mit ihr in die Höhe, brachten sie dem Suri ikuen und gaben sie ihm zur Frau. Und dann zogen die Vögel aus, um allerlei Dinge zusammenzuholen und herbeizuschleppen. Sie fingen auch Menschen ein, nahmen die mit und machten sie zu Dienern des Suri ikuen.

[103] Eines Tages feierten sie oben auf dem Felsen ein großes Fest. Das sahen die Brüder von Suri ikuen und sprachen: »Da oben ist unser Suri ikuen, der gibt ein Fest. Kommt mit, das wollen wir uns anschauen.« – Kaum waren seine Brüder an den Fuß des Berges gekommen, da befahl Suri ikuen den Raubvögeln, seinen Brüdern die Augen auszuhacken, seine Eltern und sieben Schwestern sollten sie ihm aber hinaufbringen.

Darnach sprachen die beiden Vögel zu Suri ikuen: »Nun gehen wir heim und kommen nicht wieder.« Und Suri ikuen umarmte den einen, und seine Frau umhalste den anderen Vogel, und weinten und wollten sie nicht loslassen.

Da sagten die beiden Vögel zu Suri ikuen: »Setzt neben der Vorder- und Hintertür je ein Opferkörbchen auf eine Decke.« Da ließen sie die beiden Vögel los, die nun davonflogen. Sie flogen auf ein Feld und erblickten dort zwei fremde Vögel. Die wollten sie mitnehmen. Und der eine Raubvogel wollte gerade nach unten fliegen, um die Vögel zu fangen, da schoß ein Mann nach ihm. Tot fiel er herunter. Nun wollte der andere sie fangen, da schoß der Mann zum andern Male. So starben sie beide.

Die Federn von den beiden flogen jedoch in die Opferkörbchen; dort fielen sie nieder und füllten sie bis zum Rande. Und die Federn verwandelten sich: etliche in Gold und Silber, andere in Büffel, etliche in Menschen, Gewehre, Hühner und die mannigfaltigsten Dinge.

Und damit ist die Geschichte aus.

Quelle:
Hambruch, Paul: Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde. Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 101-104.
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