[70] 23. Der Feigenbaum

[70] Es war einmal eine Frau, die gebar ein Kind; und ihr Mann fuhr darauf nach den Inseln hinaus, um Schildkröten und Seekühe zu fangen; er wollte sie an Ort und Stelle gleich räuchern und meinte, er würde wohl in einem Monat wiederkommen. Seine Mutter war eine alte Frau und konnte zaubern. Eines Tages sagte sie zu ihrer Schwiegertochter: »Ein Feigenbaum steht nicht weit von hier; seine Früchte sind reif, klettere doch hinauf und hole sie herab.«

Die junge Frau war noch schwach und hatte keine Lust zu gehen; doch die alte Frau drängte sie so lange, bis sie ja sagte und auf den Baum kletterte. Als sie im Baume saß, murmelte die Alte ihre Sprüche; dabei vergaß sie ganz wo sie war und rief schließlich laut: »Haltet sie fest! Haltet sie fest!«

»Was sagst du, Mutter?« fragte die junge Frau. »Nichts! nichts' Ich redete mit den Kindern und sagte ihnen, sie sollten schnell die reifen Feigen aufsammeln.« Dann murmelte sie ruhig weiter und schloß stets mit: »Haltet sie fest! Haltet sie fest!«

Da hielten die Äste des Feigenbaumes, der ganz und gar mit einer klebrigen Masse bedeckt war, die junge Mutter so fest, daß sie nicht loskommen konnte. Nun kletterte die alte Frau hinauf und schnitt ihrer Schwiegertochter eine Hand ab. Dann stieg sie wieder hinab, nahm die Hand mit nach Haus und legte sie dort hin, um sich etwas Gemüse zum Essen zu holen. Als die alte Hexe verschwunden und außer Hörweite war, rief die junge Frau: »Kinderchen! Kinderchen! kommt und holt euch Milch und gebt sie eurem jüngsten Bruder.« Und die Kinder antworteten: »Die Mutter ruft, kommt laßt uns die Milch holen.«

Sie holten zwei Kokosschalen, taten die Milch hinein und gaben [71] sie dem Säugling zu trinken. Kaum waren sie damit fertig, als die alte Hexe wieder hereinkam. »Was macht ihr da mit den Schalen?« fragte sie argwöhnisch. »Wir holten für den Säugling Wasser aus dem Flusse,« gaben sie zur Antwort.

Am nächsten Tag schnitt die Hexe den Unterarm ab und holte sich Taro, um ihn dazu zu essen. Sobald sie fort war, wiederholte sich das Schauspiel von gestern; die Kinder kletterten auf den Baum, holten von der Mutter die Milch und gaben sie dem Säugling. Und als die Hexe wiederkam, glaubte sie, es wäre wie gestern Wasser gewesen.

Das wiederholte sich nun an den drei folgenden Tagen; die Hexe holte sich den Oberarm, dann die Schulter und schließlich die Brust.


23. Der Feigenbaum

Die Kinder hörten die Mutter vergeblich schreien, und sie sagten: »Nun ist sie tot, und morgen wird die Hexe uns schlachten: wir müssen uns verstecken.«

Das älteste suchte sich Käfer, Spinnen, Schlangen, Skorpione, Tausendfüßler, Wespen, Ameisen und andere beißenden Tiere mehr; der zweite holte Nahrungsmittel, Schalen, Bambusmesser und Geräte herbei.

Mutter und Kind in Wanigera
Mutter und Kind in Wanigera

Dann gingen sie zu einem Bäumchen, das neben einer hohen Palme wuchs, und sagten: »Bäumchen, liebes Bäumchen, beuge dich herunter und hilf uns Kindern!«

Da beugte sich das Bäumchen herab und die Kinder konnten mit allem, was sie bei sich trugen, den beißenden Tieren, Essen und Geräten, auf ihn hinaufsteigen.

»Nun, Bäumchen, strecke dich und hilf uns Kleinen!« sagten sie. Und das Bäumchen streckte sich, richtete sich auf und lehnte sich mit seiner Spitze gegen die Palme; jetzt konnten sie auf die Palme hinaufklettern, und das Bäumchen stellte sich wie früher hin.

Als sie im Wipfel der Palme angekommen [72] waren und sich eingerichtet hatten, da verteilten sie die Käfer und die übrigen beißenden Tiere um den Stamm unterhalb ihres Sitzes und aßen sich an den Nüssen satt.

Bei kleinem kam auch die Hexe wieder nach Hause und konnte die Kinder nicht finden. »Kinderchen, Kinderchen, wo seid ihr denn?« rief sie laut; und murmelte für sich: »Ich fürchte, nun bin ich mein Kleinfleisch los, sie wissen wohl, wie es ihrer Mutter ergangen ist.« Als die Kinder sie rufen hörten, sagten sie: »Großmutter, wir sind hier oben in der Palme.« – »Alle?« – »Ja, alle!« – »Das ist noch ein Glück,« sprach sie zu sich, »ich dachte schon, mein Kleinfleisch wäre mir davongelaufen.«

Am andern Tag war sie hungrig und wollte nun ein Kind fressen. Als sie sich ihr Gemüse besorgt hatte, kam sie zum Baum und sagte: »Wie kann ich hinaufkommen?« – »Du Füße voran!« erwiderte der Älteste. Da kletterte die Hexe mit den Füßen voran den Baum hinauf, und als sie zu den Skorpionen kam, bissen die sie in die Füße. »O, o, o!« sagte sie, kletterte wieder hinab und rieb sich die Wunden mit Asche ein. Sie hatte nun nichts zu essen; am andern Morgen kam sie wieder und fragte, wie sie hinaufklettern könnte. »Mit der Hinterseite voran!« sagte der Älteste. Da kletterte sie mit der Hinterseite voran; die Schlangen bissen sie, und sie schrie: »O, o, o!« fiel zu Boden und rieb sich mit Asche ein.

Am andern Tage war sie sehr hungrig und sagte zu den Kindern: »Kinderchen, wie kann ich hinaufkommen?«

»Kopf voran!« sagte der Älteste. Da kletterte sie mit dem Kopf voran, doch auf halbem Wege stach eine Wespe sie in die Backe, sie fiel wieder hinunter, bestreute den Kopf mit Asche und ächzte und stöhnte.

Da wollte es das Schicksal, daß dem Vater von seinen Kindern träumte und seine Pläne änderte. Er suchte die Netze, Speere und Fische zusammen und ging nach Hause. Als er dort ankam, war niemand da. »Nanu!« sagte er, »wo sind denn die Kleinen, wo ist die Mutter?«

[73] Und als er zum Baden an den Fluß ging, wurde er von einer Kokosnuß aufgeschreckt, die dicht neben ihm aufschlug; er schaute nach oben und bemerkte seine Kinder. »Wie kommt ihr denn da hinauf? Wo ist die Mutter?« sagte er. »Großmutter hat sie geschlachtet,« sagte der Älteste, »und wir flohen hierher, damit sie uns nicht auch fräße.« Dann baten sie das Bäumchen, ihnen doch beim Herabkommen behilflich zu sein; sie stiegen hinunter und begrüßten den Vater.

Der ging nach Hause und wetzte sein großes Messer; er schliff es so lange, bis es haarscharf war.

Dann rief er: »Mutter, komm her und hol' dir deine Fische. Du hast lange keine Fische gegessen, komm und hol' sie dir!« Doch die Hexe stöhnte: »O, meine Beine! O, mein Rücken! O, mein Kopf!« und sie sagte: »Laß deinen Ältesten sie bringen.« – »Der holt Holz!« antwortete der Vater. »Dann laß den Zweiten sie bringen!« – »Der holt Wasser!« – »Dann laß den Kleinsten sie bringen!« – »Der muß mir die Fische putzen!« – Nun kam sie hervorgekrochen, bis sie an die Leiter kam, die ins Haus führte. »Wirf sie mir her!« sagte sie.

»Nein, es sind so schöne Fische, du mußt herkommen und sie holen.«

Da kletterte sie die Leiter in die Höhe; sie stöhnte vor Schmerzen; und als ihr Kopf sich über der Schwelle erhob, da schnitt der Sohn ihr den Hals ab. Dann suchte er alle seine Habseligkeiten zusammen, verbrannte die Häuser, ging an den Strand, packte seine Habe und drei Kinder ins Boot und wollte nach den anderen Inseln hinüberfahren. Doch der Strom war stark, und das Boot kam nicht aus der Stelle. Da warf er den Kleinsten über Bord, um es zu erleichtern. Doch die Wogen türmten sich höher und immer höher, da warf der Mann den Zweiten über Bord und schöpfte mit dem Ältesten das Boot leer. Gegen Abend schlug jedoch das Boot ganz voll, und da mußten sie beide auf hoher See ertrinken.


Quelle:
Hambruch, Paul: Südseemärchen. Jena: Eugen Diederich, 1916, S. 70-74.
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